Beyond the Line: Stefan Gierowski und Sean Scully: Uniformitätsresistenz
Die polnische Hauptstadt Warschau ist zur Stunde ein Hotspot für Kunstinteressierte. Nachdem das alljährliche Warsaw Gallery Weekend in September beendet war und der lang ersehnte neue Sitz des Museums für Moderne Kunst eröffnet wurde (⤇ siehe den Bericht des artmagazine), präsentierte die Fundacja Stefan Gierowski, die sich seit zehn Jahren in der Nähe der Nationalgalerie Zacheta befindet, eine nicht alltägliche Ausstellung mit dem Titel "Beyond the Line". Sie präsentiert zwei Meister der Abtraktion: Werke des polnischen Malers Stefan Gierowski (1925–2022) und des irischstämmigen Amerikaners und zweimaligen Emigranten Sean Scully (*1945). Scully, ein prominenter Vertreter der Neuen Abstraktion in der Postmoderne der 1980er Jahre, gab der abstrakten Malerei emotionale Tiefe und Spiritualität auf eine Weise zurück, die den realen Lebensumständen angepasst war. Seine "Supergitter" jenseits der scharfen Linientrennung erlangten schnell Bekanntheit.
Obwohl sich die beiden Künstler nie begegnet sind und sie zwanzig Jahre Altersunterschied trennen, waren sie nach Ansicht des erfahrenen Ausstellungskurators Joachim Pisarro mit ihrer
unnachgiebigen Haltung sowohl in der Kunst als auch in der Politik ihrer Zeit voraus. Man könnte sie auch als Ausnahmekünstler bezeichnen.
Bei Gierowski und Scully ist das Gitter ein charakteristisches Leitmotiv. Für Gierowski wird es aber nie zum ikonischen Element. Scully hat sich für ein weiches, farbnuanciertes und dicht komponiertes Raster entschieden, um sich in der hochkapitalistischen Diversität von New York behaupten zu können. Für Gierowski stand die Veränderung des Regelsystems im Vordergrund. Er schuf keine Muster, auch wenn sie das Menschliche widerspiegeln, sondern metaphysische Raum-Bildnisse, die der Wirklichkeit entrückt zu sein scheinen. Es lässt sich konstatieren, dass beide Maler mit europäischen Prinzipien der Abstraktion arbeiteten und die Hierarchien bei ihnen zumeist symmetrisch waren. Für den Polen war die Rückkehr von der anfänglichen Figuration und die Verlagerung auf abstrakte Bilder ein Ausdruck der Suche nach persönlicher Freiheit. Damit wollte sich Gierowski von der starren Doktrin des Sozialrealismus distanzieren. Scully hingegen distanzierte sich bewusst von den Ausdrucksformen des Abstrakten Expressionismus, der OP-Art und teilweise auch vom Minimalismus der New Yorker Kunstszene, der an süffisanten Konzeptualismus grenzte.
Scullys Bestreben war es, einen eigenständigen künstlerischen Weg zu beschreiten und seinen beinahe monochromen Kompositionen eine Art Seele einzuhauchen. Der legendäre Country-Musiker Johnny Cash, der Irland bereiste, war von der Landschaft des Landes dermaßen begeistert, dass er sie in seinem Schlager als "40 Shades of Green" besang. Und so sind auch die Gemälde von Sean Scully: Materie- und Materialienbezogen, manchmal massiv und doch voller Melodie und Esprit. Während Gierowski in der Nachkriegszeit die Sprache der Abstraktion in Anlehnung an die polnische Avantgarde (z.B. Strzeminski) und den Konstruktivismus und vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Weltraumwettlaufs zwischen den USA und der Sowjetunion im Osten neu erfand, veränderte Scully im Westen deren Bedeutung. Ihre zeitliche Verwurzelung verankerte er in der physischen Grundlage der archaischen Architektur. Die Oberflächen und Strukturen alter Mauern oder Steinwände der Maya Architektur und das Licht bildeten die Basis für seine „cremig weichen“ Farbraster. Für Scully waren die Linien temporär, der Künstler vermied jede endgültige Lösung, indem er mehrere Bildflächen zu einem komplexen, „humanisierten“ Ganzen zusammenfügte, wie in dem Gemälde Empty Hearts (1987), aus dem später seine mehrteiligen Gemälde mit den objekthaften „Insets“ hervorgingen. What makes us too (2017), das in der Ausstellung zu sehen ist, ist eines davon. Carter Radliff schrieb angesichts dieser sorgfältig austarierten, nicht mehr ganz symmetrischen Beziehungen von „Entwürfen zur Verfasstheit der westlichen Kultur“. Die Bilder wirken wie Embleme. Gierowski hingegen variierte die Interaktion zwischen Fläche und weiteren Bildelementen wie Licht, Linie, Kontrast und Farbe in seinen Werken. Dabei zielte er darauf ab, die Aufmerksamkeit der Betrachter:innen auf den Raum jenseits der Bildgrenze zu lenken. Für seine Werke ließ er sich von Diagrammen der Magnetfelder und Errungenschaften der Wahrnehmungspsychologie inspirieren.
In der aktuellen Ausstellung sind zahlreiche Beispiele für das Zusammenspiel der Arbeiten beider Künstler aus verschiedenen Phasen ihrer langjährigen malerischen Praxis zu sehen. Das Gezeigte umfasst die figurativen Bilder noch aus den 1940er Jahren, bis hin zu Scullys Großformat Migration aus dem Jahr 2021. In dem fast vier Meter langen Gemälde mischt der Maler großflächig den Bildtypus „Bild im Bild“ mit dem amerikanischen Allover-Konzept und bringt sie in ein wohldurchdachtes Gleichgewicht. Die Einsätze im Bild evozieren Assoziationen zu Wänden, Fenstern und Mauern, wobei letztere durch ihre hautähnlichen Farben auffallen. Alles in allem vermittelt das Bild den Eindruck eines lebendigen Pulsierens und einer gewissen Autorität. Gegenüber hängen zwei rechteckige Bilder von Stefan Gierowski, welche die Titel "1998" und "1999" tragen und eine Höhe von 2 bzw. 2,5 Metern aufweisen. Die Werke sind nicht auf konkrete oder zeitgenössische Referenzen ausgerichtet und weisen im Sinne Barnett Newmans eine gewisse Erhabenheit auf. Gierowski erforscht in ihnen die Dimension des Raums in Tiefe, Breite und Länge, ohne dabei eine konkret benannte Realität hervorzuheben.
Die Gegenüberstellung der Werke der beiden Anhänger der Abstraktion ist ein wesentlicher Bestandteil der exklusiven Präsentation in der Fundacja Stefan Gierowski. Dabei stehen einige von ihnen mehr, andere weniger im Fokus. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die sich unmittelbar aus den gegensätzlichen soziokulturellen und politischen Kontexten ergeben, werden dabei deutlich und beweisen, dass es auch möglich ist, in der Sprache der Abstraktion zu erzählen.
14.09 - 24.11.2024
Fundacja Stefana Gierowskiego
00-055 Warschau, Pl. Dabrowskiego 8/11
Tel: +48 22 892 00 58
Email: biuro@fundacjagierowskiego.pl
https://fundacjagierowskiego.pl