Landschaft re-artikulieren: (K)Ein Brachland
Das MMKK nimmt eine Reartikulierung des Landschaftsbegriffes vor, in welcher der Fokus auf den Menschen zugunsten eines heterogenen Verständnisses verschiedenster Akteur:innen aufgehoben wird.
Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung bildet die sogenannte Pečnik-Wiese/Pečnikov travnik. Man begegnet ihr bereits in einer sich im ersten Raum befindlichen Installation von Marika Balode-Haderlap, die ausschließlich aus gefundenen Gegenständen zusammengebaut wurde. Flaschen, Kronkorken und aufgelesene Plastikverpackungen aus dem in einem Graben bei Bad Eisenkappel/ Železna Kapla gelegenen Areal türmen sich in dieser Materialsammlung auf. An anderer Stelle sind Knochen und Ohrmarken von Tieren, Tannenzapfen oder aber loses Geäst zu sehen. Unter all den Dingen hat sich eine Hochzeitskarte aus der Schweiz gemischt, die vermutlich mit einem Luftballon auf die Wiese gelangt ist. Jedes dieser Objekte ist mit einer eigenen Geschichte versehen. Ineinander verwoben scheinen sie wie eine Metaebene über dem Gut des Grünstreifens zu schweben. Vertrocknete Unken erzählen von tierischen Unfällen mit Weidezäunen. Schraubenschlüssel sprechen für die Landwirtschaftsnutzung, Müll bezeichnenderweise für den Menschen. Die Materialien können nicht ohne einander. Eines verweist aufs nächste. Die Werkzeugteile schlagen den Link zur sich in Ohrmarken und Knochen wiederspiegelnden Nutztierhaltung, der Froschkadaver zur technischen Innovation, ein von Ameisen angefressenes Holzstück für die Wandelbarkeit der Wiese fernab des menschlichen Eingriffs. Bei genauem Studium der Objekte kann man selbst erkennen, dass nur ein Teil der ausgestellten Tierknochen, nämlich jene die glatt geschnitten sind, den Nutztieren entstammt. Jene von Wildtieren haben sich ungefragt hinzugesellt. Der Mensch ist hier nur Teil eines größeren, sich in den Dingen reflektierenden Ökosystems, das von Überlebensbedingungen und -kämpfen, Machtspielen sowie Zufällen geprägt ist.
Beim Gang durch den Ausstellungsparcour taucht die genannte Wiese weitere Male auf. Und zwar in Arbeiten, die Teil des 2021 von Zdravko Haderlap und Herwig Turk initiierten künstlerischen Projektes „graben//LANDSCHAFT//lesen – kopati//GRAPO//brati“ sind, das sich der kollektiven glokalen Geschichte dieses Geländes widmet: Eine Überleitung bildet die Vierkanal-Videoinstallation Herwig Turks und Gebhard Sengmüllers. Sie fängt den Landschaftsstrich im Wandel der Jahreszeiten ein. Anhand der Vegetationswechsel, Trampelpfade sowie Umweltveränderungen zeigt die über zwei Jahre gedrehte Arbeit Gesichter der Wiese, die selbst den Anrainer:innen unbekannt sein mögen. Eine Videoarbeit Nicole Sixs & Paul Petritschs versammelt dann von Wildkameras im Zeitraum Jänner-Juli 2023 aufgenommene einminütige Sequenzen, ausgelöst durch erkannte Bewegungen – sei es menschlich, tierisch oder witterungsbedingt durch Sturm und Lichtreflexion. Die Videoszenen - zu einem zweistündigen Film versammelt - blieben zum Zeitpunkt des Geschehens ungesehen. Doch haben sie sich auf bzw. nahe der Wiese abgespielt, ja dieser gewissermaßen „Leben“ eingehaucht. Dieses Werk ist ein Paradebeispiel der sich durch die Ausstellung ziehenden sichtbaren Verborgenheit. Ziemlich am Ende manifestiert sich die Metapher der (Un)Sichtbarkeit in einer von Sengmüller kreierten „GPS-Drawing“-Nutztier Grafik nochmals eindrücklich. Auf dem Bildschirm bildet sich dabei allmählich, je nach Intensität der Schritt- und Laufmeter der Schafe, eine aus den gewonnenen Geodaten digital generierte Zeichnung aus. Die abstrakt anmutende, mehrfarbige Grafik – jedem Tier wurde eine bestimmte Farbe zugeordnet – ist jenseits kontextabhängiger Berücksichtigung theoretisches Gebilde. Sie wird dann aber alsbald lebensecht, sobald man die aufgezeichneten Bewegungen mit den Verhaltensweisen und Vorlieben der Tiere verknüpft. Abermals lässt sich mit dem Begriffspaar unsichtbarer Sichtbarkeit argumentieren.
Die Umformulierung des Landschaftsbegriffes tangiert in der Ausstellung das gesamte Gefüge humaner-nichthumaner Interaktionen. Zuvorderst, um eine Neubewertung von Natur und Landschaft zu initiieren, die über die klassische Separation von Natur und Kultur hinausreicht. Die Fotoserie Infertile Grounds Sandra Vitaljićs erzählt beispielsweise anhand fotografisch eingefangener Perspektiven von Gegenden, die als Kriegsschauplätze fungierten, wie Landschaftsstriche durch gesellschaftspolitische Ereignisse geprägt werden und wie an ihnen doch nur subtil etwas von diesem Grauen haften bleibt. Das hier zu sehende Bild geht mit dem Bild der Vergangenheit konträr. Wüsste man es nicht besser, so würde die von den Fotografien ausgehende Idylle der Landschaften einen leicht austricksen können. Der Schleier der Unsichtbarkeit kann Ereignisse verdecken. Was heute als naiver Landstrich daherkommt, kann, um die südafrikanische Fotografin Jo Ractliffe zu zitieren, „pathologische Landschaft“ sein, in der im Krieg gefallene Menschenleichen verscharrt liegen. Und die Landschaft, mutet sie heute nur so unschuldig an, da wortwörtlich Gras über die Sache gewachsen ist? In umgekehrter Weise geht Stephanie Kiwitt vor, wenn sie in der Serie Wondelgemse Meersen in die Natur eingeschriebene Details in Form von Abfall, Schlamm und verstreuten Gegenständen fotografisch dokumentiert. Sie widmet sich der Frage von Imagination und Realität, die ein rundes Bild der landschaftlichen wie gesellschaftlichen Dystopie einer hier nur in Details abgebildeten Brache schafft, die man entschlüsseln kann - ohne Blick aufs Ganze zu bekommen. Den Dialog von Kultur und Natur zwischen Erschließung und Auflösung treibt dann Hans Schabus in der Fotoserie Auf der Suche nach der endlosen Säule auf die Spitze. Zu sehen sind wie Skulpturen anmutende Haltestellen, die allmählich durch Nicht-Nutzung von der Landschaft vereinnahmt und wiedergewonnen wurden. Mit Migrant Seasons reaktiviert Anastasia Eggers schließlich das Format des Bauernkalenders als Wissen um die Wichtigkeit natürlicher Zyklen für die Landschaft. Sie rückt damit ins Zentrum, was im Zuge technologischer Modernisierung verloren wurde.
Den Geheimnissen scheinbar marginaler Details widmet sich auch Jochen Lempert. Die schwarz-weiß-Arbeiten der Fotoreihe Landschaft Re-artikulieren mit Wiese und nicht-menschlichen Akteur*innen beherbergen einen Entdeckerdrang am Verschwinden landschaftlicher Elemente. Sie leiten zu politischen Aspekten über. Erwähnenswert in dem Sinne ist Josef Dabernigs Tankstellen- und Benzinstatistik für Steyr Fiat Croma 154 i.E., eine akribisch getätigte Dokumentation von Orten von Tankstopps sowie getankter Liter Treibstoffs zwischen 1995 und 2000 auf Papier. Dabernig zieht geografisch Linien, die in ihrer Ganzheit eine Erzählung bilden. Man berücksichtige auch die Infrastruktur des in die Landschaft eingeschriebenen Wegnetztes als Voraussetzung seiner Wegwahl. Man berücksichtige auch seine slawischen, sich im Namen wiederfindenden Wurzeln in Korrelation mit seinen Fahrten. Wie eine Konstante zieht sich der Ort Dravograd durch das zunächst nur als Wortgewirr identifizierbare Konvolut durch, der als Grenzort nicht nur aufgrund der billigeren Spritpreise häufig aufgesucht wurde, sondern auch auf biografische Hintergründe verweist. Das Wortgemenge entpuppt sich so allmählich als Manifestation politisch-persönlicher Überschreitung. Noch stärker in globalpolitische Gefilde trägt uns Lucie Stahls Arbeit Petrochemical Prayer Wheel. Diese aus sechs Ölfässern der bedeutendsten Ölkonzerne der Welt bestehende Gebetsmühle führt das geradezu religiöse Verhältnis zu fossiler Energie vor. Ebenso fordert die Installation zur Revision von Landschaft auf, hin zur gerechteren globalen Umverteilung. Mit dem Konnex zu den buddhistischen Gebetsmühlen, die das spirituelle und körperliche Selbst in Balance halten sollten, stellt sich die Frage, welches Gleichgewicht wir in den milliardenschweren Konzernen zu finden hoffen. Zeitgleich kontrastiert die petrochemische Gebetsmühle mit der sich im Einklang des Selbst befindlichen religiösen Verständnisses, als dass man hier nur mehr schwer von einer Art positiven Karma sprechen kann. Der Link zum Ungleichgewicht zwischen reichem Westen und globalem Süden tut sich auf. Und mit ihm eine Aufteilung der Erde, die nicht zuletzt auf Frédéric Neyrats Begriff des Kapitalozäns fußt, eines Konstruktes einer Welt, das Natur in Dienst des Kapitalismus stellt und sich gleichermaßen versündigt. An diese Thematik anschließend, zeigt die Filmarbeit Night fishing with ancestors vom Karrabing Film Collective eine alternative Geschichte zur dystopischen europäischen Landaneignung Australiens auf, die wie ein Märchen wirkt und emporholt, was jenseits kapitalistischer Vereinnahmung möglich (gewesen) wäre.
Die Ausstellung im MMKK, die sich im Austausch mit dem Forschungsprojekt zur Pečnik-Wiese ergeben hat und dieses in Dialog mit globalen Positionen brachte, will Landschaft anders denken. Die Schau möchte zur Handlungsmotivation überleiten, aber auch den Menschen vom Sockel heben und so profitorientierte Strategien in Bezug auf Landschaft überdenken. Subtil puzzelt sich eine Auseinandersetzung zur Revision des Umgangs mit unserer Landschaft zusammen, in welcher der Mensch nicht Zerstörer- sondern Behüterfunktion einnehmen soll, ohne sich als zu wichtiger Teil im Ganzen zu sehen.
13.06 - 01.09.2024
MMKK Museum Moderner Kunst Kärnten
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