Avant-Garde and Liberation. Zeitgenössische Kunst und dekoloniale Moderne: Import von Kunst, Export von Gewissen
Die Ausstellung über die Bedeutung der globalen Moderne für die Gegenwartskunst sollte bereits vor fünf Jahren im Wiener Mumok eröffnet werden. Vielleicht wirkt sie deshalb heute etwas abgegriffen, zum Teil hartnäckig didaktisch, ja plakativ.
Der Kurator der Ausstellung, Christian Kravagna, ein ausgewiesener Kenner vernachlässigter Künstler*innen aus dem globalen Süden (Afrika, Asien, der Raum des „Schwarzen Atlantiks“), hat die längst überfällige Aufgabe übernommen, dem Wiener Publikum die Geschichte dieser marginalisierten und kolonialisierten Teile der Welt und ihre in langen Befreiungskämpfen erodierte dekoloniale Moderne ins Gedächtnis zu rufen. All dies aus der Perspektive zeitgenössischer Kunst, die historische Ansätze der kolonialen Moderne aktualisiert und in ihre Kunstwerke integriert. Auch einige Vordenker und Protagonisten von Dekolonisierungsprozessen werden in mehreren Arbeiten gewürdigt. Dazu gehören der französische Psychiater und Schriftsteller Franz Fanon und der amerikanische Schriftsteller, Dandy und Ästhet James Baldwin, dessen zentrales Thema der strukturelle Rassismus war und der in diesem Jahr seinen hundertsten Geburtstag feiern würde. Wie jede Ausstellung zu diesem prekären Thema sollte sie, wie in anderen Kunstinstitutionen weltweit, den eurozentrischen Blick und die Ignoranz gegenüber „nicht-westlichen Konzepten pluraler Modernen und alternativer Avantgarden“ relativieren.
Die Frage ist nun, ob dies in vollem Umfang gelungen ist, indem in den Wandtexten und im Katalog darauf bestanden wurde, den Begriff der westlichen „Avantgarde“ auch auf damalige und heutige künstlerische Widerstandsbewegungen gegen akute rassistische Bedrohungen und andere Formen von Gewalt wie Neokolonialismus oder wiederauflebende Nationalismen wie in Indien anzuwenden, auch weil sich diese z.B. im Umgang mit der Geschichte grundlegend voneinander unterscheiden. Wenn das Ethos der Avantgarde im globalen Süden dennoch erfolgreich war - und das war es in den Jahren des Kalten Krieges tatsächlich -, dann sollte man sich daran erinnern, dass dies zu einem großen Teil Organisationen wie dem Congress for Cultural Freedom zu verdanken war, die insgeheim von westlichen Regierungen unterstützt wurden. Kravagnas Ausstellung ignoriert solche Zusammenhänge. Sie lässt die Helden und Heldinnen der außereuropäischen (Gegen-)Avantgarde der Vergangenheit wieder aufleben, sagt aber nichts Substanzielles über die "Avantgarde" oder die "Moderne" selbst, wie es im überlangen Untertitel der Ausstellung heißt. Anstatt ähnliche Begriffe zu dekolonisieren, wird die Dekolonisierung in die Geschichte der Moderne selbst eingeschrieben.
Der Parcours, der sich über drei Stockwerke erstreckt, zeigen insgesamt 24 Künstler:innen und Aktivist:*innen aus verschiedenen Regionen und kulturellen Kontexten von Südasien bis Amerika.
Film, Malerei, Fotografie und Skulptur sind die bevorzugten Medien. Gestalterisch verzichtet Kravagna (wie er im Gespräch mit Nana Adusei Poku, der Kuratorin der erfolgreichen Schau Black Melancholia (2022) einräumt) fast gänzlich auf Raumgestaltung, Lichteffekte und Farbe, die von seiner kuratorischen Botschaft ablenken könnten. So hängen die zahlreichen Gemälde - mehrere von einem Künstler, etwa von Serge Attukwei Clottey (*1985) und Fahamu Pecou (*1975) - unspektakulär, wie in einer kommerziellen Galerie üblich, im Wechsel mit Objekten oder Skulpturen. Eine Ausnahme bildet ein über drei Meter langes imposantes "malerisches Monument“ von Omar Ba (*1977, Dakar) im Eingangsbereich der Ausstellung, das in Anlehnung an den senegalesischen afrozentrischen Historiker Cheikh Anta Diop vor dem Hintergrund einer Weltkarte mit einigen hervorgehobenen imperialen Metropolien die für die westliche Kultur primären Verbindungen zwischen der ägyptischen und der griechischen Kultur visualisiert.
Ein besonderes Augenmerk legten die Kuratoren – seitens des Mumok auch Matthias Michalka als Co-Kurator - und die Ausstellungsarchitekten auf Filme und Videos. Sie sind die Hotspots dieser Ausstellung, die wie ein Netzwerk funktioniert. Jeder von ihnen zeichnet sich durch sein eigenes architektonisches Design, seine eigene Farbkombination und eine andere Art großzügiger und bequemer Sitzgelegenheiten aus: Von breiten, weichen Sofas mit Konfetti, die die Vorführung des unterhaltsamen Schwarzweißfilms der Niederländerin Patriacia Kaersenhout Le retour des Femme colibris (2022), einer der weniger Künstlerinnen in der Ausstellung, begleiten, der die Geschichte der Sklaverei mit Fokus auf die emanzipatorischen Aktivitäten der Frauen der Negritude-Bewegung bis hin zu roten Liegestühlen. In letzteren sitzt man tief zurückgelehnt und schaut mehr auf das eigene Handy als auf die Leinwand, auf der Vincent Messens inhaltsreicher Film Just un Mouvement (2021) über die Befreiungskämpfe der Dekolonisierung, das globale 1968" und das revolutionäre Potenzial von Kunst und Kino" läuft. So ganz ohne Sensibilität und Empfindsamkeit geht es also auch in dieser Ausstellung nicht.Ein herausragender künstlerischer Beitrag ist in diesem Zusammenhang das Video und die damit verbundenen Arbeiten des Roma Robert Gabris mit dem Titel Insectiopia. Ob auf Papier, oder auf großen transparenten Stoffbahnen, die die Arbeit von David Hammons zitierend die Körperabdrücke des Künstlers zeigen, oder im Video, das seine wundersame Verwandlung in ein Insekt dokumentiert - alle Arbeiten sind provokante Metaphern für die wissenschaftlichen und polizeilichen Methoden der Klassifizierung nicht nur von Pflanzen und Tieren, sondern auch von Menschen, insbesondere solchen, die von der Norm abweichen. Gabris‘ Protest gegen gesellschaftliche und institutionelle Gewalt, sein cooles, klinisches Outfit zum Zweck der Verwandlung erinnern auch stark an die Praktiken und Performances der Wiener Aktionisten und ihren Kampf um Selbstbestimmung. Solche Arbeiten, die die Psyche berühren und unser kollektivsinguläres Handeln herausfordern, wirken nachhaltig.
07.06 - 22.09.2024
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