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Santiago Sierra - 300 Tonnen, 300 tons: schwergewichtig und skandalös

Santiago Sierra ist ein skandalträchtiger Künstler, der gewohnt ist, der Gesellschaft ihren Spiegel vorzuhalten. Entweder erblickt sie in diesem Spiegel zornig das Haupt der Medusa (Oh, wie schrecklich!) oder infantil das Gesicht des Narziß (Ah, wie schön!). In Bregenz minimiert Sierra den Minimalismus auf ein Minimum: Er erklärt kurzerhand das Gebäude des Kunsthauses selbst zum Gesamtkunstwerk und lässt den obersten Stock mit 300 Tonnen trocken gemauerten Betonsteinen belasten, die in vierzehn kubenförmigen Blöcken mit einem Volumen von 3x3x3 Metern streng symmetrisch angeordnet und begehbar aufgestellt werden. Dabei verlangt er von den Vorarlberger Bauarbeitern, die diesen Kraftakt vollführen, alle Arbeitsreste wie Plastikflaschen, Holzkeile, Papier für Wurstsemmeln etc. einfach zurückzulassen. Was zunächst am Boden als inszeniertes All-Over im Stil von Jackson-Pollock wirken könnte, ist somit eine tatsächlich zufällige Ansammlung von Abfall, der - wie der technische Leiter Markus Unterkircher versichert - so niemals auf einer Vorarlberger Baustelle angetroffen werden könnte, weil die Vorarlberger nach der Arbeit immer alles ganz sauber zusammenräumen. Um die 300 Tonnen im obersten Geschoss tragen zu können, benötigt das Kunsthaus in jedem Stockwerk 15 vertikale Baustützen. Dem Bautechniker gemäß, verlängern diese Baustützen jene Pfeiler, die in den felsigen Boden am Bodenseeufer geschlagen sind, und stützen so das enorme Gewicht. Die vertikalen Pfeiler, versehen mit Lackschäden, groben Muttern und Fußspuren der Arbeiter, wirken trotz versicherter, statischer Notwendigkeit, wie Duchampsche Readymades. Während der Pressetext sich jedoch in statischen Erläuterungen verliert, bleibt die zentrale, provozierende Frage unbeantwortet: Was soll diese Minimalisierung des Gestalterischen gegen Null in einem der führenden österreichischen Kunsttempeln? Der Skandal ist offenbar, allerdings ist er formaler Art. Im Gegensatz zum emotionalisierbaren Skandal, wie die Zumauerung des spanischen Pavillons durch Sierra auf der letztjährigen Biennale in Venedig, pflegt die mediale Gesellschaft solch einen formalen Skandal mit achselzuckender Ignoranz zu übergehen. Die Vertikale lässt gemäß einem ästhetischen Verdacht (Peter Weibel) an das Aufstrebende einer gotischen Kathedrale denken. Santiago Sierra selbst sagt, er habe keinerlei ästhetische, sondern nur praktisch Gründe gehabt, diese Pfeiler so zu positionieren. Statt eines metaphysischen Überbaus wird im Bregenzer Frühling der Blick auf ein monumentales Kunstwerk frei, welches das Kunsthaus selbst ist. Dieses verweist nur auf sich selbst. Und jeder Besucher, der das Haus betritt, wird durch sein Gewicht selbst zum Teil dieses Kunstwerks. Es dürfen nämlich immer nur 100 Leute das Haus betreten, da sonst die Gesamtbelastung überschritten würde und das Haus einstürzen könnte.
Mehr Texte von Wolfgang Ölz

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Santiago Sierra - 300 Tonnen, 300 tons
03.04 - 23.05.2004

Kunsthaus Bregenz
6900 Bregenz, Karl Tizian Platz
Tel: +43 5574 48 594-0, Fax: +43 5574 48 594-8
Email: kub@kunsthaus-bregenz.at
http://www.kunsthaus-bregenz.at
Öffnungszeiten: Di-So 10-18, Do 10-20 Uhr


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