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Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin: Geliehener Gaul

Geht es nach dem bekannten Sprichwort, schaut man dem geschenkten Gaul nicht ins Maul. Das gebietet der Anstand. Schade, dass Gerhard Richter (Jg. 1932) die „100 Werke für Berlin“, die beengt im Grafikkabinett der Neuen Nationalgalerie (NNG) dauerausgestellt sind, dem Museum nicht einfach geschenkt hat. Darunter mehrheitlich Abstraktes: kleinere und größere Rakeleien der letzten Dekade, eine Serie übermalter, kleinformatiger Fotos (1998ff), hinter Glas konservierte Zufalls-Abstraktionen (2010), eine Handvoll Spiegel- und Glasarbeiten, dazu ein paar Fotoreproduktionen, die Richter als Editionen seiner populären „Klassiker“ auflegt. Unverzichtbar: der in einer Auflage von 105 signierten Exemplaren kursierende „Onkel Rudi“ (1965/2000). Filetstück ist aber der berühmte „Birkenau-Zyklus“ (2014): Die vier abstrakten Bilder, deren grindig gerakelte Oberflächen von Grün-Rot- und Schwarz-Weiß-Kontrasten leben, hat Richter, wie es heißt, in zähem, kreativen Ringen mit vier 1944 unter schier unglaublichen Umständen überlieferten Fotografien aus dem Vernichtungslager Auschwitz Birkenau realisiert. Dem KZ-Häftling Alberto Errera zugeschrieben, werden diese einst vom polnischen Widerstand in Umlauf gebrachten Bilder, die ungeheuerliche Einblicke in die Mordmaschinerie der Nazis geben, kommentarlos neben dem „Birkenau-Zyklus“ gezeigt – ganz so als seien es Werke Richters.

Es ist eine „langfristige Dauerleihgabe“, die Richter qua eigener Stiftung der NNG zur Verfügung stellt. Der Deal wurde einst von der damaligen Bundeskulturministerin Monika Grütters höchstselbst als gewichtiges Argument in der Debatte um den – leider viel zu wenig – umstrittenen Neubau des so genannten „Museums des 20. Jahrhunderts“ eingebracht. Das entsteht derzeit am Kulturforum als Erweiterungsbau der NNG. Die geschätzten Kosten belaufen sich dank kräftig steigender Baupreise mittlerweile auf gut eine halbe Milliarde Euro. An Geld für Personal, Programm oder Ankäufe fehlt es der von der bauwütigen Stiftung Preußischer Kulturbesitz verwalteten Nationalgalerie dagegen seit langem. Über 6000 jährliche Euro verfügt man dort, um Kunst für die nationale Sammlung zu kaufen. Umso besser also, wenn der mit Sachargumenten kaum zu rechtfertigende Bau nach seiner 2026 erwarteten Fertigstellung, nun mit einem hochkarätigen, wenngleich erliehenen Richter-Saal aufwarten würde. In Berlin rechnet man wohl schon mit langen Besucherschlangen, wie einst 2012 bei der Retrospektive zum 80. Geburtstag des Meisters. Dumm, dass die NNG-Kuratoren Joachim Jäger und Maike Steinkamp die Hufe nicht stillhalten konnten und das Richter-Legat unbedingt vorab präsentieren wollten. Das verpatzt die Überraschung und zeigt in der Nagelprobe: Das für Berlin gepackte Paket mag potenziell zwar einen enormen Wert auf dem Kunstmarkt darstellen, der Kunstwert hält sich aber selbst für Richter-Fans in eher engen Grenzen. Für dessen konzeptuell und durchsetzungsstrategisch durchaus potentes Lebenswerk ist diese Werkauswahl nämlich kaum repräsentativ: Es dominiert die bunte Augenkunst, das freie und nicht ganz so freie Spiel der Farben, eigenhändig gerakelt oder industriell fabriziert wie im zehn Meter breiten Digitaldruck „Strip“ (2013/2016). Allein von diesem Kompositionsprinzip – ein Cluster aus horizontal gedruckten Farbstreifen – kursieren dutzende Versionen in allen Größen.   

Wohltuende Ausreißer sind zwei nach Fotovorlage hergestellte Abmalungen, ihrerseits aber alles andere als exemplarische Spitzenwerke: das „Besetzte Haus“ (1989) und ein „Schädel“ (1983), die beide für Richters geschickte Kombination aus akademisch-realistischer Malerei mit allusiven Referenzen einstehen. Für Deutschlands Vorzeigemuseum offenbar das höchste der Gefühle.

Mehr Texte von Hans-Jürgen Hafner

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Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin
01.04.2023 - 01.01.2026

Neue Nationalgalerie
10785 Berlin, Potsdamer Straße 50
Tel: +49 30 266 424242
https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/neue-nationalgalerie/home/
Öffnungszeiten: Di-So 10-18, Do 10-20 h


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