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Like a Virgin

Weit oben, nahe dem himmlischen Licht, verliert sich der Schleier. Der Schal gehört einer halb Bekleideten, die aus einer lichten Sphäre schwebt. Ihr nach hinten gebundenes Haar ist an der Stirn mit einer Mondsichel bekrönt. Die Doppelhelix der Seide ist der Ansatz einer abfallenden Diagonale, die das Bildthema bestimmt. Herab fällt der Blick, nach unten richtet sich die Aufmerksamkeit. Der Schal wechselt indes die Richtung und fällt in einem eleganten Schwung hinter dem Rücken herab. Unter der Körpermitte staut sich das Textil, als würde es sich spontan zu einem Gefäß winden, aus dem die bezaubernde Jeannie entweicht. Wie selbstverständlich schnürt sich die Seide um Scham und Beine. Es ist Diana, die aus dem Lichtkegel gleitet. Die Nymphe fühlt sich zu einem Jüngling hingezogen, der am Boden ruht. Von der himmlischen Aura beleuchtet strahlt sein Körper. Ein Putto sorgt dafür, dass ihn das Licht perfekt ausleuchtet. Um den Blick frei zu machen, zieht er die Kleider zur Seite. Es ist Endymion, der nichts ahnende Hirte, der sich dem Begehren darbietet.

Das Gemälde ist typisch für die Epoche des ausgehenden Empire, indem die Salonkunst lasziv und der männliche Körper androgyn werden. Die Erotik der Szene wird durch allerlei kunstgeschichtliche Geschmacksverstärker angereichert. Jérôme-Martin Langlois malt den Jüngling nach dem Muster eines hellenistischen Fauns. Das Vorbild findet er in einer berühmten Figur, die in der Münchner Glyptothek aufbewahrt wird. Auch der über dem Kopf angewinkelte Arm folgt einem tradierten Muster, es ist der Hinweis auf den durch Eingebung inspirierten Schlaf. Das beginnende 19. Jahrhundert nimmt die antike Motivik bereitwillig auf, steigert sie allerdings zu Theatralik und Schwüle. Insofern interpretiert Langlois den Arm realistisch, als wäre er zum Schutz vor der Blendung gehoben. Alles weitere erledigt die Lichtregie, eine süßliche Palette und — am bedeutendsten — ein geschlechtliche Verflüssigung. Diana zeigt sich als Jägerin, die den Jüngling wie zur Empfängnis bereit findet. Auch das Bild erweist sich als Hybrid. Mythen und Religion vermengen sich, um Farben und Gefühle zum Schmelzen zu bringen. Diana schwebt wie der Erzengel zur Gebenedeiten, die Nymphe erscheint wie Zeus in Verwandlung und erinnert zugleich an die französische Marianne im Zeitalter des Friedens, dazu kommen noch Anleihen bei Berninis ekstatischer Teresa und das Kinderspiel des barocken Blondschopfes im Nebenschauplatz. Nicht zuletzt ist das Leopardenfell eine Zutat, die das malerische Gericht mit einem Schuss Exotismus würzt.

Fakt ist, dass das Gemälde im Pariser Salon von 1819 ausgestellt wird und sogleich von Louis XVIII mit Mitteln der Staatskasse erworben wird, um einen Diana-Saal in Versailles damit auszustatten. Später erwirbt die Dritte Republik das Gemälde, 1878 verleiht es der Louvre an das Musée de Picardie in Amiens. Dort bleibt es bis zum Ersten Weltkrieg. 1918 wird die Stadt unter deutscher Artillerie schwer beschädigt. Das Bild gilt fortan als kriegsbedingter Schwund. Doch 1989 wird es, oder eine Kopie davon, in New York versteigert. Niemand Geringerer als die Pop-Ikone Madonna soll die Käuferin sein. Ein Kunsthistoriker aus Amiens kann das Motiv identifizieren, nachdem ein Foto mit Madonna und dem Gemälde in der Zeitschrift „Paris Match“ erscheint. Nun bittet die Bürgermeisterin der Stadt, Brigitte Fouré, im Hinblick auf die Ernennung von Amiens zur Kulturhauptstadt Europas 2028 das Gemälde ausleihen zu dürfen. Madonna ist bislang eine Antwort schuldig.

1991, zwei Jahre nach der Ersteigerung, erscheint Madonnas Song „Rescue Me“. Das Lied wird in der „Immaculate Collection“ (etwa: „Unbefleckte Sammlung“) veröffentlicht. Auf dem Cover inszeniert sich Madonna in kühlem Blau, ähnlich wie der fliederfarbene Schleier bei Langlois. Die geschlossenen Augen deuten auf eine „unio mystica“, eine innere Begegnung mit dem Göttlichen, hin. „Like a Virgin“, Madonnas wohl bekanntester Hit, sucht nach einer religiös-erotischen Ineinssetzung. Sie wird in dem Bild noch auf einen Jüngling projiziert, und damit um eine Facette reicher.

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Abbildungen:
Jérôme-Martin Langlois: Diana und Endymion, 1822, Öl auf Leinwand
Madonna, Cover, „Rescue Me“, 1991, Studio: Axis Recording (New York City), Label: Sire, Warner Bros.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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1 Posting in diesem Forum
Mythologie
Günter Stickler | 20.02.2023 10:09 | antworten
Diana, eine Nymphe?

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