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Bruno Latour 1947 - 2022

Bruno Latour verdanken wir eine der wichtigsten Kritiken jüngerer Wissenschaftsgeschichte. In der Reibung zwischen Technowissenschaften und sozialem Gefüge, zwischen Labor und Gebiet, findet er die Argumente gegen Zweckorientierung und Universalismus. Die “Anthropologie der Modernen” sei von der Polarität von Natur und Gesellschaft motiviert, schreibt Latour. Dazu komme ein zeitlicher Vektor. Im Gegensatz dazu, was die Modernen über sich selbst meinen, schauen sie nicht nach vorn, sondern nach hinten. Die modernen Wissenschaften sind damit beschäftigt, vor den Schrecken der alten Zeiten zu fliehen. Ihr Geist versiegelt sich in einem selbstverschuldeten Gefäß. Eine “Büchse der Pandora” baut sich auf, innerhalb der das menschliche Erkenntnisstreben nur das wahrnimmt, was im Fokus seiner Intentionalität liegt. Um dies zu verbildlichen, bedient sich Latour der Metapher des Bildersturms. Denn fundamentale Wissenschaftskritik, wie er sie betreibt, ähnelt der Zertrümmerung eingeübter Idole. Doch es gehe darum, den Hammerschlag aufzuhalten.[1]Iconoclash ist so etwas wie die Aussetzung der Geste des Ikonoklastischen, quasi die rechte Hand des Engels, der im Namen des Himmels das Handgelenk Abrahams zurückhält.[2] In der Hand des Engels findet Latour das Bild für den letzten Moment der Besinnung. Es geht um nichts weniger als die Zukunft der Erde. Diesen Gedanken demonstriert er mit einer gefilmten Tanzperformance im Rahmen der Gifford Lectures in Edinburgh.[3] Ein Engel tritt auf, dieses Mal ist es der Engel der Geogeschichte, – dargestellt durch eine Frau, die sich rückwärts bewegt und der Vergangenheit stellt. Anders als Walter Benjamins Engel, der von einem herannahenden Sturm unerbittlich in die Zukunft getrieben wird, richtet sich der Blick des Engels der Geogeschichte in eine schockierende Zukunft. Während Benjamins Engel die Augen unbewegt und starr hält, findet sich im Gesicht der Tänzerin spontanes Entsetzen. Die weibliche Allegorie ändert ihre Richtung und beginnt sich dorthin zu bewegen, wo sie herkommt, mit den schockierten Augen auf die bedrohliche Gaia gerichtet. Gaia, das ist der zentrale Begriff Latours, den er von James Lovelock übernimmt, die Vorstellung einer Gesamtheit des Lebenden, die Dynamik der Biosphäre, die Erde. Mit dem getanzten Bild spricht Latour die Dringlichkeit der ökologischen Krise an und die Unfähigkeit der Menschen, darauf zu reagieren. Doch wie lässt sich ein aktiver Bezug zur Zukunft herstellen? Latour schlägt eine Aktion abseits von Benommenheit und Panik vor. Er ruft die Menschen auf, sich als “Erdverhaftete” zu verstehen, als Wesen, die mit Millionen von biologischen Gefährten und Mitbewohnern, mit denen sie gemeinsam die schmale Kruste dieses Planeten bewohnen, interagieren.

Im Lockdown, der sich auf Französisch “Confinement” (also Abriegelung, Einschränkung) nennt, findet Latour die Büchse der Pandora auf unerwartete Weise verwirklicht, aber auch die Chance, die Welt anders wahrzunehmen. Dabei gehe es nicht darum, einen extraterrestrischen Blick auf den Planeten zu werfen, – dies würde eine Rückkehr in die Moderne bedeuten – sondern an die Perspektive der Erdverhafteten zu erinnern. Sie können die Bedingungen und konkreten Abhängigkeiten beschreiben, die alles Lebende und Aktive miteinander verbindet.

In einem Essay zur pandemischen Erfahrung erscheint kein Engel, aber eine surreale und zugleich existierende Kreatur. Der Ich-Erzähler Latour findet sich in ein Insekt verwandelt. Wie in Kafkas “Verwandlung” lebt er vom eigenen Vater bedroht wie eine Kakerlake. Doch der durch den Lockdown Isolierte denkt sich als gepanzerte Termite und damit als Wesen von Widerstand und Selbstbestimmung. Termiten und Ameisen sind jene Arten, die trotz des weltweiten Insektensterbens Strategien des Überlebens entwickeln. An ihrer Gemeinschaft und Lebenssicherung sollte sich der Abgeriegelte orientieren, der zu Hause eingesperrt nur auf den Mond vertrauen kann. Alle innerweltlichen, alltäglichen und romantischen, nüchternen und notwendigen Beobachtungen provozieren in ihm nur das Gefühl der Schuld. “Diese Tasse Kaffee zerstört in den Tropen ein Stück Boden; dieses T-Shirt bringt in Bangladesh ein Kind in Not; von dem blutigen Steak, das ich immer so gerne aß, steigen Methanwolken auf (...) Ich stöhne, winde mich, fassungslos von dieser Verwandlung – wann werde ich endlich aus diesem Albtraum aufwachen, wieder werden, was ich früher war: frei, anständig, mobil?[4] So gesehen ist die düstere Vision Kafkas nicht länger ein Szenario der Angst, und die Termite auch kein Ungeheuer, das der eigene Vater zertritt. Indem Latour die Novelle umgekehrt liest, wird es möglich, in dem kriechenden und sozialen Insekt die Vision einer Zukunft zu erblicken. Mit dem kafkaesken Albtraum wird der Albtraum der Gaia umgangen. “Mit deinen Fühlern, deinen Gliedmaßen, deinen Ausdünstungen, deinen Abfällen, deinen Prothesen wirst du vielleicht endlich ein Mensch!” [5]

Der 1947 in eine Winzerfamilie in Burgund geborene Bruno Latour war Soziologe, Anthropologe, Philosoph, Wissenschaftstheoretiker. Er lehrte an der von ihm gegründeten “Sciences Po École des Arts Politiques” in Paris. Latour war Mitglied mehrerer Akademien und Träger von sechs Ehrendoktorwürden. 2013 erhielt er den Holberg-Preis. Am Karlsruher ZKM kuratierte er die Ausstellungen “Iconoclash”, 2002, “Making Things Public”, 2005 und “Reset Modernity”, 2016. 2020 kuratierte er gemeinsam mit Martin Guinard und Eva Lin die Taipeh Biennale. 2021 erhielt er den mit 100 Millionen Yen dotierten Kyoto-Preis der Inamori-Foundation. Latour erlag am 9. Oktober 2022 einem Krebsleiden in Paris.

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[1] B.L.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, (engl Original; 1999), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 329.

[2] Kunstforum International, Interview mit Hans Norbert Jocks, Band 237, https://www.kunstforum.de/artikel/bruno-latour/

[3] Tanzchoreografie kuratiert von Bruno Latour, mit Stefany Ganachaud und verfilmt von Jonathan Michel, Gifford Lectures, Edinburgh 2013.

[4] B.L.: Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2021, S.13.

[5] ebda S.17.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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