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Peripher?

Die Gruppenausstellung „K60“ mit ihren 15 teilnehmenden Berliner Galerien, darunter „big names“ wie neugerriemschneider, Sprüth Magers und Esther Schipper, hätte das Herzstück der diesjährigen Berlin Art Week werden können, doch leider ist auch die 3. Ausgabe von „K60“ in den Wilhelm Hallen nicht mehr geworden als ein in solchen Kontexten beinahe schon üblicher Hybrid von Messe und Ausstellung. Weder konnte die Präsentation der Arbeiten in den all zu großen Hallen überzeugen, noch war so etwas wie ein Konzept dieser ambitionierten, aber letztlich recht belanglosen Angelegenheit ersichtlich. Auf eine:n Kurator:in wurde dann auch ignoranter Weise gleich ganz verzichtet. Gute Kunst gab es dennoch zu sehen, etwa Almut Lindes Installation „Dirty Minimal # 62. 4 – 1347, LIVES, 2011 -15, in der kleine, ovale Identitätsmarken der Bundeswehr an metallenen Schnüren in einem dichten Gestöber von der Decke hängen. Auf dem ersten Blick erinnert das schillernde Geschehen, zu sehen in der Präsentation der Galerie PSM, an Arbeiten von Felix Gonzales-Torres, auf dem zweiten aber wird deutlich, dass diese minimalistische Schönheit hier kontaminiert ist, dienen diese Identitätsmarken doch dazu, im „Ernstfall“ getötete Soldaten identifizieren zu können.

Es gab diesmal kein „Herzstück“, kein Zentrum der Berlin Art Week, getreu ihrem, eigentlich wohl eher im geographischen Sinne gemeinten, diesjährigem Motto „Vom Zentrum in die Peripherie“. Und diese Horizontalität war dann auch der Pluspunkt dieses „Festivals“, als solches versteht sich die Berlin Art Week nämlich jetzt, denn es überzeugte durch eine qualitätsvolle Menge unterschiedlichster Events. Da wäre zum Beispiel die große Retrospektive von Mona Hatoum zu nennen: An gleich drei Orten, dem Kolbe Museum, dem Neuen Berliner Kunstverein und dem KINDL Zentrum für zeitgenössischen Kunst zeigt die palästinensisch-britische Installations-, Performance- und Videokünstlerin derzeit ihre Arbeiten aus den letzten vier Jahrzehnten. Sehenswert!

Ebenfalls bemerkenswert ist die von Marc Wellmann im Dialog mit dem Künstler Philip Grözinger kuratierte Gruppenausstellung „ÜberLeben – Fragen an die Zukunft“ im traditionsreichen Haus am Lützowplatz: Werke von Björn Melhus, Bettina von Arnim, Sabine Gross und anderen zum Thema Klimakatastrophe werden da vorgestellt. Zum Teil treten diese Arbeiten in einen Dialog mit dem Film „Soylent Green“, 1973, ein. Der Film des Regisseurs Richard Fleischer spielt im Jahre 2020 und gilt als erste Ökodystopie im Mainstreamfilm.  Die engagierte Show versucht dem Thema, trotz des bisherigen politischen Totalversagens bei der Bekämpfung der fortschreitenden Klimakatastrophe, ansatzweise auch hoffnungsvolle Aspekte abzugewinnen.

Hervorzuheben ist auch die Ausstellung „Magical Hackerism“ bei SAVVY Contemporary. Mit ihren 22 Exponaten unternimmt das großangelegte Ausstellungsprojekt den Versuch, einer logozentristischen Weltsicht, die auf den Dualismus von binären Gegensätzen wie Natur/Kultur, West/Ost oder zivilisiert/wild vertraut, eine komplexere, widerspruchsvollere und zugleich vielfältig vernetzende Mentalität entgegenzusetzen. Da ist zum Beispiel gleich im Erdgeschoss von SAVVY die Installation „Subaviático“, 2022, von Tania Candiani zu sehen. Wurzel und Äste hängen von der Decke und fügen sich zu einer netzartigen Struktur, aus der Sounds erklingen. Genauer: Unterwassergeräusche und Vogelgezwitscher mischen sich hier im Zwie-/Einklang mit besagtem Geäst zu einem polyphonen Gesang, der jedwede naturwissenschaftliche Kategorisierung aus den Angeln hebt. 

Meine persönlichen Höhepunkte der diesjährigen Berlin Art Week sind zwei Galerieausstellungen in der Nähe des Checkpoint Charly. Zum einen spreche ich von Carrie Mae Weems’ Präsentation „People in Conditions“ in der Galerie Barbara Thumm. Die US-amerikanische Künstlerin, die jüngst im Kunstverein Stuttgart mit einer Einzelausstellung brillierte, zeigt dort unter anderem ihre Arbeit „Holocaust Memorial“, 2007, auf deren Fotos die Künstlerin zu sehen ist, wie sie durch Peter Eisenmans Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas tanzt. Die strenge, so statische wie geometrische Struktur des Mahnmals wird dadurch aufgeladen und gleichsam aktualisiert mit der körperlichen Energie von Weems.

Ebenfalls überzeugend ist bei KOW Mario Pfeifers Film „Proof of the Unthinkable“, 2022, in der der Skandal Oury Jalloh präzise aufgearbeitet wird, also der mutmaßliche rassistische Mord an einem PoC-Mann, der in einer ostdeutschen Gefängniszelle verbrannt ist. Bis heute ist die Ursache dieses Feuertodes nicht aufgeklärt, unter anderem weil die deutsche Justiz daran offensichtlich nicht interessiert ist. Mario Pfeifers unter die Haut gehender Film rollt den Fall mit Hilfe von Reenactments, dokumentarischen Filmmaterials und gesprochenen Kommentaren neu auf und bezieht dabei deutlich Stellung: Dass Oury Jalloh sich tatsächlich selbst angezündet hat, wie bisher die Justiz behauptet, ist unwahrscheinlich, ja eigentlich „undenkbar“.   

Übrigens: Die Berlin Art Week wählte dieses Jahr die Berliner „Uferhallen“ als ihr Festivaltreffpunkt aus und bekundete so seine Solidarität mit dem von Immobilienspekulation bedrohten Kulturzentrum, in dem u. a. 80 Künstler:innen-Ateliers untergebracht sind. Die dort zu sehende Gruppenausstellung „On Equal Terms“ diskutiert dann auch mit Arbeiten von 26 Künstler:innen, darunter Mark Wallinger, Antje Blumenstein und Selja Kameric, das problematische Machtverhältnis von Kunst und Ökonomie, ein Thema, dass gerade in dem sich immer mehr gentrifizierenden Berlin von Relevanz ist.

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Alle Informationen unter --> berlinartweek.de

Mehr Texte von Raimar Stange

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