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JR: Chronicles: Rückstandsfrei nachhaltig

Die Geschichte beginnt damit, dass ein junger Mann mit Migrationshintergrund in der Pariser Metro eine Fotokamera findet. Fortan war er zwar noch immer mit seinen Kumpels aus der Sprayerszene in den Banlieus unterwegs, doch dokumentierte er nun seine Kollegen in Aktion anstatt sich zu beteiligen. Nach dem Motto, „Mir gehört die größte Galerie der Welt – die Wände der Stadt“, griff er nur mehr zur Farbdose, um einen Rahmen um die als SW-Fotokopie an urbane Wände applizierte Aufnahmen zu sprayen. Die Sache weitete sich aus und bald sah man die grimmig bis heiteren Grimassen einer Generation affichiert auf Rollläden, Mülltonnen, in zugemauerten Fenstern und anderen Freiflächen städtischem Mobiliars und man sah sie ebenso wieder peu a peu von selbst verschwinden.

JR, so der Name des Künstlers, dessen Initialen für „juste ridicule“ (einfach lächerlich) stehen, vernetzte sich zusehends wie weltweit, mit Ladj Ly kam ein filmender Freund hinzu, mit dem er 2004 begonnen hatte, gegen das gängige Bild zu arbeiten, das nicht ganz frei von Vorurteilen den Jungs in den Banlieus zukommt. Auch die Medien so zeigte es sich bald, sind hieran durchaus beteiligt. Ganz gewöhnlicher Bandenkrieg möchte man im ersten Augenblick meinen. Gleichsam Aug in Aug steht man einem jungen Mann gegenüber, jeden Moment wird er das schwere Gerät, mit dem er aus sein Gegenüber zu zielen scheint, leicht nach oben schwenken. Alleine, es wird keine Opfer geben, denn bei näherer Betrachtung erweist sich die Waffe als Videokamera. Das Bild, das Ladj Ly zeigt, wurde nach dem Tod von zwei Teenagern und den darauffolgenden Unruhen von den Medien zur Illustration herangezogen und wurde zur ersten publizierten Arbeit und somit Inkunabel innerhalb des Œuvres von JR. Vom urbanen Raum in die Massenmedien und retour auf die Fassade der Tate Modern, von wo aus der Protagonist des übergroß affichierten Fotos mit seiner Linse auf den Fußgänger der Milleniums Bridge zielt – längst sind die Kopien in variablen Dimensionen nun im Museum gelandet. Zur Zeit beispielsweise im niederländischen Groningen.

JR: Chronicles nennt sich die ursprünglich für das Brooklyn Museum kuratierte Schau, die nun für Groningen adaptiert, den Werdegang des Künstlers von seinen Anfängen bis heute eindrücklich wie multimedial zurück verfolgt. Was mit an Mauern gekleisterten Fotokopien, deren Halbwertszeit eher gering ist, beginnt, wird hier vielfältig medial inszeniert zur Retrospektive eines zutiefst demokratischen Werks, das nicht zuletzt der Devise Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit folgt. Spektakulär muten so manche Aufnahmen aus der Fernsicht an. Gesichter, die in ihrer Dimension ganze Hausfassaden überdecken, Augenpartien, die einen aus den dichtbebauten Slums in Hanglage anblicken, Luftaufnahmen, die eine Sicht auf Dächer preis geben, auf deren gesamter Fläche Porträtfotos appliziert wurden. Und als man für den diesjährigen Eurovisions Song Contest

in die Filme, die Städte, Regionen und Landschaften vorstellen sollten, die einzelnen Teilnehmer an Fassaden, Plätze und Felswände kopierte, wird man eben die Ästhetik der Arbeiten von JR im Hinterkopf gehabt haben.

JR verbindet mit seinen Arbeiten nichts weniger als Nationen, Konfessionen, Generationen, Geschlechter und wie es scheint, folgt man der Einladung Teil des Werkes zu sein, gerne. Eben weil sie ohne Sponsorengelder oder jegliche politische Agenda zu den Orten ihres Wirken kommen, werden JR und sein Team stets mit offenen Armen empfangen. Zumindest meistens.

Bevor sich JR daran machte, mit seinen Chronicles diverser Städte aus hunderten Fotos von Einzelpersonen kollektive Massenporträts zu arrangieren, reagierte er 2017 mit der Arbeit Kikito auf den Bau der Mauer zwischen den USA und Mexico. Neugierig scheint ein riesenhafter kleiner Junge von der mexikanischen Stadt Tecate über die Grenzmauer zu blicken. Am Picknick, das vor dem Aubbau des Gerüsts auf beiden Seiten der Grenze veranstaltet wurde, nahmen hunderte von Gästen teil. Selbes Essen, selbes Trinken, selbe Livemusik dies- und jenseits der Mauer und als die Grenzpolizei das Fest beenden und alle verhaften wollte, hatten sie bald das Einsehen. Die Stimmung war einfach zu gut.

„Kunst kann nicht die Welt verändern“, so der JR, „aber sie kann die Wahrnehmung verändern“, und er folgert daraus in seiner klaren Logik, dass Kunst die Sicht auf die Welt verändern kann. Die Arbeiten von JR funktionieren unmittelbar vor Ort, sie funktionieren dokumentiert in sämtlichen medialen Ausformungen, sie funktionieren im urbanen wie im musealen Kontext, sie sind hintergründig wie plakativ und erklären sich vielfach selbst. Kurzum: Sie sind prädestiniert wirklich alle zu erreichen. Welche Postion kann das heute schon von sich behaupten?

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von 26.08.2022 bis 15.02. 2023 ist die Ausstellung in der Münchner hypo Kunsthalle zu sehen

Mehr Texte von Daniela Gregori

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JR: Chronicles
20.11.2021 - 12.06.2022

Groninger Museum
9711 ME Groningen, Museumeiland 1
Tel: +31 50 3 666 555
Email: info@groningermuseum.nl
https://www.groningermuseum.nl
Öffnungszeiten: Di-So 10-17 h


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