Ludwig Wittgenstein - Fotografie als analytische Praxis: Fotografie als Modell der Sprachphilosophie
Nach Präsentationen mit den Schwerpunkten Malerei und Skulptur der Gegenwart überrascht das Leopold Museum in der aktuellen Ausstellung „Ludwig Wittgenstein - Fotografie als analytische Praxis“ des Kuratorenteams Verena Gamper & Gregor Schmoll mit einer Vielfalt internationaler fotografischer Exponate in abwechslungsreicher Skalierung, Facettierung und Un(Schärfe) des Abgebildeten.
Eigentlich sollte die Show den 70.Todestag eines der bekanntesten Philosophen der Moderne und „des Begründers des linguistic turn“ sowie das Erscheinen seines "Tractatus" (1921) würdigen. Aus diesem Anlass ist eine (erheblich) erkenntnisreiche, in mehreren Themenkapiteln wie u.a. (Selbst)Bildnisse, Atlas, Lügen der Fotografie oder Fotografierte Räume zusammengestellte Ausstellung über die zeitgenössische Fotografie, ihre Produktionsmethoden sowie ästhetische Kunstgriffe entstanden. Die Fotografie von heute steht in der Resonanz und manchmal auch im Widerspruch zu der Fotopraxis und theoretischen Überlegungen Ludwig Wittgensteins (1889-1951) über das fotografische Bild; zu seinen genauen Anweisungen und Bezügen zu diesem Medium in der klassichen Phase seiner Progression. Und während die Gegenwart in ihrer genremäßigen Diversität und Größendimension an den Wänden wuchert, sind die akribisch inszenierten Foto-Originale des Philosophen, seine Automatenporträts (1930), Postkarten, oder die skurril-humorvolle Nonsense-Collection in dunkel ausgelegten Vitrinen untergebracht, die im Mittelpunkt jedes einzelnen Ausstellungraums, wie in einem Naturkundemuseum stehen, ihre kostbaren Schätze offenbarend. Aufgepeppt wird das Angebot mit einem Fotoalbum alias ein mit 102 Fotos befülltes Notizbuch aus dem Cambridge Archiv, das man am Monitor digital durchblättern kann. Das Ganze ohne erklärende Worte des Autors, wobei er aber sonst ständig seine Zweifel über die Darstellungswahrhaftigkeit eines fotografischen Bildes an den Tag legte. Durch unkorrektes Beschneiden von Abzügen oder die „Autonomie des Gebildes in ihrer singulären Dimension seiner Materialität“ (zit.Kat.) könnte das Einzelbild nach seiner Ansicht, anders beispielweise wie eine Fotosequenz, dem Realen nicht entsprechen.
In seiner Zuwendung zur Fotografie blieb der Philosoph, Sammler und Architekt der Tradition seiner großbürgerlichen Familie treu; ihre Mitglieder dokumentierten oftmals Szenen aus ihrem Leben in diesem „objektiven“ Medium und der Fotograf Moritz Nähr, der Wittgenstein häufig beim Fotografieren assistierte war langjähriger Familienfreund. Darüber hinaus hatte sich der Tractatus-Autor der fotografischen Technik oder ihrer Bilderentstehung, auch wegen ihres indexikalischen Charakters zur Bebilderung und zum besseren Verständnis seiner philosophischen Thesen öfters bedient. Wittgenstein beschäftigte sich mit der Komposit-Fotografie von Francis Galton und aus dieser Auseinandersetzung mit der Mehrfachbelichtungstechnik heraus entfaltete er seine merklich innovative Konzeption der Unschärfe. Wittgenstein fragte: Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen? Dabei lotete er die Möglichkeiten der Fotografie ähnlich wie die der Sprache in ihrem Modellcharakter für die Wirklichkeit aus. In diesem Sinn dachte er an einen „Laokoon für die Photographen,“ um in der Typenfotografie die indexikalische Aussagekraft im Menschenbild gegenüber der herkömmlichen Fotografie zu erweitern.
Die Beispiele zeitgenössischer Fotografie mit ihrer zwischen Affinitäten und Unähnlichem schwankenden Codes sind in der Ausstellung umfangreich vertreten: Bereits das erste Ausstellungsobjekt ist unscharf: die Farbfotografie von Trevor Paglen: Ein verschwommenes Abbild des postkolonialen Theoretikers Frantz Fanon (Even the Dead are not Safe, 2017), dessen Unschärfe nahezu einem Einzelschicksal gleichkommt. Wie ein Eye-Catcher wirkt die poppunkig-ausdrucksstarke überdimensionale Serie Transformer von Katharina Severing, die ihre und ihres Partners Gesichtszüge sowie geschlechtliche Grenzen zu einem „dritten Mann“ visuell imaginiert. Unschärfe als persönliches Logo nützt in ihren Aufnahmen der Kirchenarchitektur auch die Appropriation-Art Protagonistin Sherrie Levine. Der Spezialist der Unschärfe, der Japaner Sugimoto und seine Fotodokumentation des Wittgenstein-Hauses (2001) in Wien sowie dessen unscharf-intime innere Leere divergieren dagegen von den auf rationale Klarheit der modernistischen Architektur fokussierten, ebenso wie die SW-Fotografien von Günther Förg.
Die Ausstellung inspiriert regelrecht dazu, solche und ähnliche „Spiele“ oder „Sätze“ d.h. Verwandschaften, Ähnlichkeiten und Polaritäten quer durch die Räume in Form eigener Netzwerke zusammen zu stellen.
12.11.2021 - 06.03.2022
Leopold Museum
1070 Wien, Museumsquartier
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