Werbung
,

Anna Meyer - Hopesters: Nächster Halt: Abgrund!?

Der globale Zug befindet sich auf dem schnellsten Weg von einer Krise in die nächste: „First stop Corona crisis“ heißt es auf dem einen Schild, „Next stop climate crisis“ auf dem folgenden. Die Reisenden scheint es nicht sonderlich zu interessieren. Die unerleuchteten Glühbirnenfiguren haben es sich in dem Zugabteil vor ihren Smartphones gemütlich gemacht. Wenn um einen herum die Welt aus den Fugen gerät bleibt immerhin noch die Flucht ins Digitale.

Die Installation First Stop Corona Crisis (2020), in feinster Trash-Manier aus Resten des alltäglichen Lebens wie Verpackungen, Glühbirnen und ausgedienten Masken konstruiert, ist Teil der Ausstellung Hopesters der Künstlerin Anna Meyer (*1964 in Schaffhausen, lebt in Wien) im Haus am Lützowplatz. Oder vielleicht sollte man besser sagen: Sie ist Teil der in Malerei und Installation gefassten Gegenwartsdiagnose, die Meyer unserer Zeit ausstellt.

Und diese fällt, wie soll man es anders erwarten, wenig positiv aus. Nicht von ungefähr befindet sich die Arbeit Kritik der Digitalen UN Vernunft (2018) gleich gegenüber dem Eingang, als Prolog gewissermaßen. Mit der Anspielung auf Kants Kritik der reinen Vernunft wird hier deutlich gemacht, dass es einer erneuten Aufklärung bedarf, die sich auf unser gegenwärtiges, digitales Zeitalter bezieht, in dem so vieles schief läuft. Als HoffnungsträgerInnen treten die aus großen Erdspalten heraufkommenden VerteidigerInnen der „Politik von unten“ auf. „Unter dem neoliberalen rechtspopulistischen Pflaster liegt der demokratische Strand“ lässt uns eine Parole wissen, die an eines der menschenleeren Gebäude geschrieben wurde.

Was derzeit alles im Argen liegt, wird in jedem von Anna Meyers schrillen Gemälden und Installationen deutlich. In den Kulissen farbenfroher, aber seelenloser Stadtarchitekturen, die weniger für den Menschen als vielmehr für die Spezies „Konsument“ errichtet wurden, wandelt ebendieser als in der Masse vereinzeltes, von der Welt entfremdetes… ja was, Individuum? Wesen trifft es eher.

Anstelle zwischenmenschlicher Nähe ist die per Daumen (der wie in Twitler (2017) auch mal zum Penisdaumen mutieren kann) ausgedrückte Bestätigung der anonymen Vielen ausschlaggebend. Und selbst Jesus hat verstanden, dass sich über Facebook neue Anhänger, Verzeihung: Follower generieren lassen (Burkamon (2016)). Die Facebook- und Twitter-Symbole sind längst Insignien der neuen Heilsbringer geworden, dabei kann es schon mal vorkommen, dass das charakteristische f zum Hakenkreuz mutiert und der Twitter-Vogel zum Twitler-Vogel wird, den Trumps goldene Haarskulptur ziert.

Arbeiten wie Supergen (2021) und Trumpschamanen (2021) thematisieren die überbordenden Aufregungs- und Hassspiralen, die aus den Tiefen der sozialen Netzwerke ins Außen geschossen werden. Im Zusammenspiel mit der Arbeit Hopesters (2018), die der Ausstellung ihren Titel leiht, spielen diese Werke auf populistische Protestbewegungen an, die die Kehrseite gesellschaftlichen Engagements bilden: Darunter die Trump-Anhänger, die am 6. Januar 2021 das Kapitol in Washington stürmten, die sogenannten Gelbwesten und die selbsternannten Querdenker.

Die unterschiedlichen Themen ihrer Werke - Klimawandel, Globalisierung, Digitalisierung und Rechtsruck - fließen über neon-farbene Klebestreifen gewissermaßen aus den Arbeiten hinaus, in den Raum hinein und auf die Betrachterin zu. Das was Du in meinen Arbeiten siehst, ist auch Deine Welt!, Tu was!, scheint uns die so entstehende Gesamt-Kompositionen zuzuraunen.

Dieser Teil der Ausstellung ist schon sehr dicht und komplex, doch die Präsentation endet hier nicht.

Im hinteren Raum befindet sich der seit 2007 von Meyer zusammengestellte und stetig erweiternde Bilderatlas Future Feminismus über den die Künstlerin auf ihrer Homepage schreibt: „Es ging einerseits darum, meine Reihe *SELBST (1996) in einer Art emanzipierter Kunstgeschichte einzuordnen. Das Projekt wurde aber dann immer größer, die Kunstgeschichte musste umgeschrieben werden und das ist erst der Anfang“.

Die Installation besteht aus zahlreichen kleinen Studien auf Plexiglas, die an Nylonschnüren von der Decke hängen oder an der Wand befestigt sind. Sie konterkarieren die „ölverschmierte patriarchale Sicht“ (Meyer) auf den weiblichen Körper – Stichwort Rubens, Courbet, Lucian Freud – mit starken Selbstbildern von Künstlerinnen, den Porträts der Serie *SELBST sowie mit Abbildungen und Zitaten weiblicher Pop-Ikonen und Politikerinnen. Lynda Benglis‘ Inszenierung ihres nackten Körpers mit riesigem Dildo trifft dort auf Tizians Darstellung des Übergriffs Tarquinius‘ auf Lucretia, #metoo wird ins 16. Jahrhundert übertragen und Artemisia Gentileschis Darstellung der Susanna, die von den Ältesten bedrängt wird findet sich neben VALIE EXPORTS Tapp- und Tastkino. Wir begegnen Maria Lassnigs Du oder ich neben Goyas tötendem Saturn, ergänzt um Zitate von Courtney Love und PJ Harvey. Und vieles, vieles mehr.

Auf jeder Plexiglasplatte ergeben sich Miniatur-Erzählungen von Emanzipation und Widerstand gegen lückenhafte Geschichtsschreibung, männliche Dominanz, Sexismus und Objektivierung des Weiblichen. Die einzelnen Darstellungen der insgesamt 54 Platten überlagern sich gegenseitig, bilden einen komplexen jedoch durchlässigen Bilderkosmos, der an jeder Stelle Raum für Neues, Ergänzendes, Bereicherndes lässt…

Die ersten Tafeln, die Meyer 2007 anfertigte, trugen den Untertitel Wir lebten in 100 Jahren. In diesem Zusatz überkreuzen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und sowohl mit Blick auf die Kunstgeschichte als auch auf die im vorderen Bereich der Ausstellung präsentierten Werke, stellen sich so zwei Fragen: Wie werden wohl künftige Zeitdiagnosen ausfallen und wie können wir die Antwort auf diese Frage heute schon beeinflussen?

Mehr Texte von Ferial Nadja Karrasch

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Anna Meyer - Hopesters
23.07 - 05.09.2021

Haus am Lützowplatz
10785 Berlin, Lützowplatz 9
Tel: +49 0 30 261 38 05, Fax: +49 0 30 264 47 13
Email: office@hal-berlin.de
https://www.hal-berlin.de/
Öffnungszeiten: Di - So: 11 - 18 Uhr


Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: