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Sun Rise | Sun Set: Katzen-Pheromone, Oktopoden und die neukonfigurierte Rolle des Menschen

Da liegt er, der größenwahnsinnige Alleinherrscher, der Protagonist der alten, männlichen Helden-Erzählung, der im Alleingang alle Feinde besiegt. Nichts ist von ihm übrig außer seinem Skelett, in der letzten Bewegung seines Lebens erstarrt, auf dem Boden liegend, umgeben von der Unwirtlichkeit der Atacama, der trockensten Wüste der Erde.

Pierre Huyghes (*1962 in Paris, lebt in New York) „Cerrio Indio Muerto” (2016), die Fotografie eines menschlichen Skeletts, das er in der Atacama-Wüste vorfand, thematisiert die Grenzen der menschlichen Anpassungsfähigkeit an die von ihm hervorgerufenen klimatischen Veränderungen. Die Arbeit veranschaulicht den maximalen Erschöpfungszustand, in dem Mensch und Natur sich derzeit befinden und könnte der Endpunkt einer Ausstellung sein, die angesichts der fortschreitenden Zerstörung des Planeten durch den Menschen nach seiner zukünftigen Rolle fragt. Die Conclusio hieße dann: Nach der Überwindung des Anthropozän, dem Zeitalter des Menschen, wird der Planet ohne den Menschen fortbestehen.

Doch das ist nicht die Lesart, die die Ausstellung Sun Rise|Sun Set, die im Schinkel Pavillon eben dieser Frage nachgeht, vorschlägt. Stattdessen ist die Fotografie hier Teil eines großartigen, eindrücklichen, multisensorischen Erfahrungsraums, in dem sich ein Weltverständnis entfaltet, „in dem Menschen, Tiere, Pflanzen, Technik und Ökonomie, unbelebte Dinge und Nicht-Wesen untrennbar miteinander verwoben sind“, so der Ausstellungstext.

Obwohl durch ein Treppenhaus und mehrere Wände getrennt, verbinden sich die in der Ausstellung gezeigten Werke, 19 Positionen verschiedener Generationen, zu einem Geflecht, entlang dessen Stränge sich die Gedanken zum Chthuluzän ausbreiten. Ausgerufen von der Biologin und feministischen Wissenschaftsphilosophin Donna Haraway widersetzt sich das Chthuluzän gleichermaßen dem Technikoptimismus wie jeglichen Endzeitphantasien und proklamiert stattdessen das Zeitalter des fortdauernden Lebens, in dem das Individuum seine Vormachtstellung zugunsten der artenübergreifenden Kooperation, der Sympoiesis und der Symbiogenese einbüßt.

Die Erde ist beschädigt, der Schaden ist angerichtet und größtenteils irreversibel, nun, so Haraway, muss es darum gehen, darüber nachzudenken, wie ein Leben auf dieser Erde weiterhin möglich sein kann.

Anthropozän, Chthuluzän, Sympoiesis, Symbiogenese – die Kuratorinnen Nina Pohl und Agnes Gryczkowska sowie Assistenzkuratorin Kerstin Renerig verzichten auf diese Begriffe der Philosophiewissenschaft und ihrer oft abstrakt gehaltenen Diskurse und bemühen sich stattdessen sehr erfolgreich um einen unmittelbaren, sinnlich bestimmten Zugang zu diesem Thema. So fällt es nicht leicht, sich dem Spannungsfeld zu entziehen, dass die im Obergeschoss des Kunstvereins installierten Arbeiten erzeugen:

Angesichts des gescheiterten Allmachts- und Überlegenheitsanspruchs des Menschen und dem von ihm verursachten Schaden (Pierre Huyghe, „Cerrio Indio Muerto”) fragt Henri Rousseaus (1844-1910) Öl-Gemälde „La belle et la bête“ (1908), das Bild eines Liebesaktes zwischen einer Frau und einem Wolf, danach, wer hier als das Biest zu bezeichnen ist und lenkt den Blick auf eine Gegenwart, „in der der Mensch sich von der Natur als dem anderen entfremdet hat“ (Kerstin Renerig).

Hinter „La belle et la bête“ ragt ein riesiger, bis knapp unter die Decke reichender Erd-Haufen empor, von dem ein intensiver, erdiger Geruch ausgeht: Die Installation „Infection (Calvin Klein Obsession for Men) (2021)“ der Künstlerin Pamela Rosenkranz (*1979 in Altdorf, CH, lebt in Zürich) besteht aus Terra Preta, einem aus dem Amazonas stammenden anthropogenen, also durch den Menschen beeinflussten Boden, der sich aus Kohle, menschlichen Fäkalien, Tonscherben und Tierknochen zusammensetzt. Rosenkranz versetzte die Erde mit dem Calvin Klein-Parfum „Obsession for Men“, das eine synthetisch hergestellte Version des Katzen-Pheromons Zibeton enthält (das Parfum wird daher häufig verwendet, um Wildkatzen in freier Wildbahn in Fotofallen zu locken). In ihrer Arbeit setzt sich Rosenkranz mit dem Einfluss auseinander, den materielle, biochemische und neurologische Prozesse auf das menschliche Verhalten haben können: Menschen, die sich in der Vergangenheit mit der oft symptomfreien Infektionskrankheit Toxoplasmose infiziert haben, nehmen die Arbeit anders wahr, als Menschen, die nicht mit dem Erreger in Kontakt kamen. Sie fühlen sich stärker zu Gerüchen hingezogen, die jenen der Katzen-Pheromone ähneln.

„Infection“ stellt somit die Annahme des Menschen als Zentrum des natürlichen und materiellen Universums infrage und macht diese Kritik – für all jene, die den Toxoplasmose-Erreger in sich tragen - körperlich erfahrbar.

Begleitet wird das intensive olfaktische Erlebnis durch den eindringlichen, melancholischen Sound der Klanginstallation „Zure“ (2017) von Ryuichi Sakamoto (*1952 in Tokyo, lebt in New York). Die Klänge entstammen einem Piano, das die „Große Erdbebenkatastrophe Ost-Japans“ halbwegs überstand. (2011 löste ein Erdbeben Tsunami-Flutwellen aus, die über 500km² der japanischen Pazifikküste überfluteten und zahlreichen Menschen das Leben kostete.) Ryuichi Sakamoto ergänzte das Klavier mit einem self-playing device, dessen Programm seismische Daten wiedergibt, die der Künstler von überall auf der Welt zusammentrug.

Das fesselnde Musikstück „Zure“ erinnert an die Schwächen der menschlichen Existenz, moderner Zivilisationen und Technologien und vermittelt gleichzeitig eine hoffnungsfrohe Botschaft: Wo etwas zerstört wurde, kann Neues, Schönes entstehen.

Es gibt also Grund für Hoffnung – freilich unter der Prämisse, dass der Mensch sein Dasein auf eine Stufe stellt mit anderen Existenzen, im Modus des „Mit-Werdens“ (Haraway) mit anderen Arten. Die Welt einer solchen unauflösbaren Koexistenz findet sich beispielsweise in Max Ernsts (1891-1976) Ölgemälde „Swampangel“ (1940), die in der abgedunkelten Klause im Erdgeschoss installiert wurde. Und auch Monira Al Qadiris (*1983 in Dakar, lebt in Berlin) Video „Divine Memory“ (2019) berührt die Idee der Verflechtung menschlicher und nichtmenschlicher Perspektiven. Die Kamera folgt verschiedenen Oktopoden, die digital eingefärbt in grellen Farben durchs Wasser gleiten. Ein Mix aus Video-Spiel-Geräuschen und Passagen islamischer Poesie, die die Künstlerin aus Fernsehshows der 1990er Jahren aufgenommen hat, begleitet die Kreaturen auf ihrem Weg durch den Ozean. „Divine Memory“ erinnert an unser vor-menschliches Wissen, das uns als Wesen dieser Erde mit anderen Existenzen verbindet und steht im Gesamtkontext der Ausstellung gleichzeitig für Haraways Forderung artenverbindend, verwandtschaftlich – tentakelhaft – zu denken.

An eine andere Art des Wissens appelliert die undatierte Arbeit „Work No. 25“ der schweizerischen Heilerin und Forscherin Emma Kunz (1892-1963). Kunz erstellte ihre Zeichnungen auf der Grundlage unzähliger Fragen, die sie mit Hilfe eines Pendels auf Millimeterpapier kartografierte. Die komplexen, geometrischen Figuren erschließen Räume voller Kräfte und Energien, die außerhalb des Selbst generiert werden, sich jedoch auf das Selbst auswirken. Sie vermitteln so einen ganzheitlichen Blick auf eine Welt, die sich aus unzähligen Verbindungen und Überkreuzungen zusammensetzt.

Die Verbindung menschlicher Existenz mit dem sie nährenden Land und Wasser zeigt sich in dem Video „Mermaids, or Aiden in Wonderland“ (2018) des Karrabing Film Collective, das aus etwa dreißig Mitgliedern der indigenen Belyuen-Gemeinschaft der Nordwestküste Australiens besteht.

Der Film schafft ein dystopisches Szenario, in dem der Kapitalismus das australische Land soweit verwüstet hat, dass Weiße nicht mehr im Freien überleben können. Aiden, ein junger Ureinwohner, der als Baby von Weißen entführt wurde um in einem medizinischen Experiment zur Rettung der weißen Bevölkerung eingesetzt zu werden, wandert nach seiner Freilassung mit Vater und Bruder durch die Landschaft seiner Vorfahren. Hierbei wird er mit zwei möglichen Versionen der Zukunft und der Vergangenheit konfrontiert.

Der Film ist ein Beitrag zu aktuellen Debatten über die Auswirkungen des Klimawandels und des Kapitalismus sowie über koloniale Gewalt aus Perspektive der Ureinwohner. Seine Erzählung basiert auf einem bestimmten Kapitel massiver Menschenrechtsverletzungen: Zwischen 1900 und den frühen 1970er Jahren wurden indigene Kinder – vor allem Hellhäutigere, sogenannte Halbblüter – von den australischen Behörden entführt, um sie in Missionsschulen nach den Tugenden der Weißen umzuerziehen. Die Angehörigen dieser sogenannten Gestohlenen Generation arbeiteten später als billige Arbeitskräfte in weißen Privathaushalten und auf Farmen.

Der Film ist eine starke Stimme kollektiven indigenen Widerstands und weist im Rahmen der Ausstellung Sun Rise|Sun Set darauf hin, was unter anderem nötig ist, um unseren Planeten heilen zu lassen: Das Chthuluzän, das Zeitalter des fortdauernden Lebens, zielt auch darauf ab, dass die bislang Verdrängten – die indigenen Bevölkerungen und die aussterbenden Tierarten – ihren Teil der Erde zurückerhalten.

Der Ausstellung Sun Rise|Sun Set gelingt es ganz ohne überwältigenden theoretischen Überbau, einen Raum zu schaffen, in dem der Mensch Abstand nimmt von seiner Vormachtsstellung, in dem vielfältige Formen des Wissens und des Existierens erfahrbar werden und in dem sich alternative Realitäten eröffnen.

Mehr Texte von Ferial Nadja Karrasch

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Sun Rise | Sun Set
27.02 - 25.07.2021

Schinkel Pavillon
10117 Berlin, Oberwallstraße 1
Tel: +49 30 208 86 444
Email: info@schinkelpavillon.de
http://www.schinkelpavillon.de
Öffnungszeiten: Fr - So 12:00 - 18:00


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