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Vom öffentlichen Sterben

Es war im Jahr 2008, Facebook steckte noch in den Kinderschuhen und Twitter war (und ist) ein Geheimtipp für Journalist*innen, als die soziale Entblößung noch über „alte Medien“ funktionierte. Das Fernsehen zeigte live, wie die Britin Jade Goody im indischen Big Brother Container von ihrer Krebsiagnose erfuhr und damit eine Diskussion hervorbrachte, ob diese Form des „Reality-TV“ nun mehr den guten Geschmack verletze oder die Würde der Betroffenen. Just in dieser Zeit trat der deutsche Künstler Gregor Schneider an die Öffentlichkeit mit seiner Suche nach einer Person, die sich in einem von ihm konzipierten Raum öffentlich beim Sterben zusehen lassen wollte.
Schneider, der schon immer mit unseren Ängsten und Sensationslüsten seinen künstlerischen Ernst auszudrücken vermochte, traf den Zeitgeist mit dieser Aufforderung derart ins Zentrum, dass es bis ins Jahr 2011 dauerte, bis der Raum – ohne sterbende Person darinnen – zum ersten Mal ausgestellt werden konnte; übrigens in Österreich, im Kunstverein Innsbruck. (--> mehr dazu hier).

Nun ist der Raum wieder ausgestellt, in einer Zeit in der sich der globale Tod mit den täglich veröffentlichten Statistiken in unser abgeschlossenes, distanziertes Leben frisst. Auf der großen Bühne des Staatstheaters Darmstadt steht der Quader, eine exakte Replik eines Raumes des "Haus Lange". Dieses ist eine ehemalige Privatvilla in Krefeld, die in den späten 1920er Jahren  von Ludwig Mies van der Rohe als bewohnbares „Kunstmuseum“ entworfen wurde.

Nachdem das Theater in Darmstadt aber pandemiebedingt geschlossen ist, kann der Raum ab heute 21:00 Uhr in einem Live-Stream besichtigt werden, der bis zum 31. Januar 22:30 Uhr laufen wird. Ein Zimmer zur Erinnerung an den physischen Tod, manifestiert sich also in einem Theaterraum, der nun wiederum zum Symbol für den (temporären) Tod unseres kulturellen Lebens wird. Der Live-Stream, der uns in den vergangenen Monaten wenigstens ein Mindestmaß an Kulturkonsum ermöglicht hat, führt sich selbst ad absurdum, denn der Raum ist leer. Die totale Ereignislosigkeit in einer der wichtigsten kommunikativen Lebensadern unseres Lebens während der Covid-Krise, eröffnet einen Gedenkraum, der weit über die Tragik der Covid-Toten hinausgeht. Die Ungreifbarkeit der Bedrohung durch das Virus verknüpft Gregor Schneider auch mit den vielen leeren Räumen, die nach der Pandemie bleiben werden, weil auch sie und damit ihre Vision die Krise nicht überstanden haben.

Live Stream unter: www.staatstheater-darmstadt.de

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Abbildung: Der Künstler Gregor Schneider vor seinem „Sterberaum“, Foto Benjamin Weber
© Bildrecht, Wien 2021

Mehr Texte von Werner Remm

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