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Lois Weinberger 1947 - 2020

Ein Foto kommt unvermeidlich in Erinnerung. Es zeigt einen Mann in makellos weißem Hemd, der eine mumifizierte Katze wie ein Baby im Arm hält. Es ist Lois Weinberger. Die Katze ist ausgemergelt. Sie hält das Maul aufgerissen, die Zähne sind spitz, der Körper ist verkrampft und vertrocknet, die angezogenen Beine wie ein lederner Leichnam in Pompeji. Lois Weinberger findet die tote Katze im Speicher seines Geburtshauses in Stams in Tirol. Dort hebt er nicht nur das Haustier, sondern noch Geldstücke, Kinderschuhe, Ablassbilder, Schmiedewerk, Reliquienbehälter und tausende andere kuriose Fundstücke. Es ist eine bäuerliche Wunderkammer, ein Sammelsurium aus sedimentiertem Wissen, Glauben und Verstecken. An der documenta 14 in Athen zeigt Weinberger die Funde als volkskundliches Archiv, fein säuberlich, unterstützt von archäologischer Forschung, in weiß getünchten Vitrinen. Er bezeichnet diese Arbeit als die “Erkundung im Abgelebten”.

Lois Weinberger, 1947 in Stams geboren, arbeitet in Skulptur, Zeichnung, Text, Fotografie, filmischer Dokumentation und an Projekten im öffentlichen Raum. Er zählt zu den wichtigsten Künstlern der Gegenwart. Sein Werk ist einzigartig. Bedeutsam ist ihm die Auseinandersetzung mit der Natur und ihrer sprachlichen Fassung durch den Menschen. Immer wieder kreisen seine Werke um die Begriffe von “Randständigkeit” und “Gebiet”. Weinberger versteht sich als Feldarbeiter. Poetische Annäherungen begleiten seine Erkundungen, die er – stets liebenswürdig und knorrig – in seinen Gebieten unternimmt. Als Sprachforscher ist er Fährtensucher und Fortdichter, als Künstler ist er Nachforscher und Spurenleser en plein air.

Für dem Campus der Innsbrucker Sozialwissenschaftlichen Fakultät entsteht 2011 ein Werk im öffentlichen Raum. Es ist ein Käfig aus rostigen Gitterstäben. Das Gebilde nennt sich »Poetische Feldarbeit«. Eigentlich ist es ein geschlossener minimalistischer Leerraum, ein unbestelltes Feld, ein unversorgtes Terrarium. Flugsamen dringen ein und sorgen mit dem Verstreichen der Zeit für unkontrolliertes Wachstum. Gräser, Büsche, Sträucher, sogar Bäume wachsen, Bierdosen, Zigarettenstummel und Glasscherben sammeln sich an. Weinberger bewertet nicht. Allein Kultivierung und gediegene Landschaftspflege sind ihm zuwider. Indes verfolgt er die Einhausung des Unkontrollierten, das Gedeihen des Vorgefundenen, das sich entwickelnde Leben und Vergehen des Seienden. Zu dieser Werkserie fertigt er Aquarelle an. Weinberger zeichnet vergitterte Würfel, in die er Klatschdrucke mit wässrigem Pinsel setzt. Die freien Formen sind Wurzeln, die aus dem Geviert des Gefängnisses wuchern. Sie entstehen zufällig wie die Spontanvegetation und sind dennoch Entwürfe für größere Vorhaben. Daneben sind die Kuben Anspielungen auf die aseptischen Kunsträume und ihre kasteienden Konventionen. Weinberger ist Ökologe, doch schützt er nicht nur die Natur, auch die Eingriffe des Menschen, Kultur und Natur, das Sosein des Lebens. Darum ist es so faszinierend, ihn auf seinen Touren durch Umgebung und Randgebiete zu begleiten. Meist bewegt er sich nach vorne gebeugt, mit dem Blick auf den Boden wie ein witterndes Tier, zugleich wie ein kenntnisreicher Forscher bei der Visite. Dazu kommentiert er ausführlich Physiologie und Geschichte der Pflanzen – in urbaner Peripherie in Mainz, auf seiner Brache in Gars am Kamp und anderswo, stets sind diese Bemerkungen ein faszinierender Kursus durch die Vielfalt von Fauna und Flora. Weinberger liebt Lexika und ist selbst ein umfassend Kundiger, eine Enzyklopädie an biologischem Wissen.

2009 wird er von Silvia Eiblmayr zur Biennale nach Venedig eingeladen. Dort entsteht die »Laubreise«, es ist Holzverschlag, in dem ein Komposthaufen dampft. Das Projekt wird an anderen Orten fortgesetzt. Das Unbedeutende, Unbeachtete und Zeitgebundene bleiben ihm merkwürdig. In einigen Werken entfernt Weinberger asphaltierte oder vernachlässigte Flächen. Eindrucksvoll geschieht das auf der documenta X in Kassel (1997), wo er Pflanzen auf einem stillgelegten Bahngleis wachsen lässt. Zwanzig Jahre später wird er bei der documenta 14 (2017) in der Karlsaue eine Schneise durch den Rasen aufreißen, an deren Ende sich der Schüttkegel des Geschiebes auftürmt. Weinberger beschäftigt sich in diesen Werken mit so genannten Ruderalgewächsen. Diese meist als Unkraut bezeichneten Pflanzen siedeln sich in Brachen an, in Asphaltritzen, auf Geröllhalden oder an unbebauten Peripherien. In „gepflegten“ Gärten werden sie normalerweise getilgt. Weinberger nimmt jedoch eine Hierarchieverschiebung vor. Indem er sie sein und wachsen lässt, verfolgt er eine politische Absicht, denn in den Ruderalgewächsen sieht Weinberger Migrant*innen, die mit minderen Lebensbedingungen auskommen müssen. Sie erdulden das gleiche Schicksal wie heimatlos gewordene Menschen.

Die persönliche Begegnung mit dem Leben, die ihn antrieb, ist an ein Ende gekommen. Lois Weinberger, der mit seiner Frau Franziska in Wien und Innsbruck lebte, erlag am 21. April 2020 in Wien einem Herzversagen.

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Weinberger stellte aus u.a. im Tinguely Museum in Basel (2019), FRAC Franche-Comté Besançon (2018), im Watari-Um Museum in Tokio (2019), im Centre Pompidou Metz (2017), im mumok Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig in Wien (2017), Neue Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin (2017), SMAK Gent (2015), Kunsthalle Mainz (2015), Ferdinandeum Innsbruck (2013), Musée d´Art Moderne St. Etienne (2011), Lentos in Linz (2008), Kunsthalle Gießen (2007), Arnolfini in Bristol (2006), Villa Merkel Esslingen (2003), Kunstverein Hannover (2003), Taxispalais Innsbruck (2002), Museum moderner Kunst 20er Haus Wien (2000) etc.
Skulpturen im öffentlichen Raum befinden sich im Erste Campus, am Dachgarten der Wien Bibliothek, und der Watari Universität in Tokio, an der SOWI Innsbruck, 1998 erhält er den Preis der Stadt Wien, 2005 das Ehrenzeichen der Universität Innsbruck, 2010 den Würdigungspreis des Landes Niederösterreich, 2014 den Preis der Klocker Stiftung.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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