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Covers of The Rolling Stones

Britische Zeitungen am 31.Januar 2020

Wer bietet die griffigste Ikone für den Tag des Austritts aus der EU? Lange dürften Chefredaktionen und Art Directors gefeilt haben. Wer Geschichte schreibt, braucht gute Bilder. Aber welche sagen mehr als die bisherigen tausend Worte? Am einfachsten machen es sich jene, die komplexe Sachlage und Skepsis unterschlagen. Das gilt für The Times nur auf den ersten Blick. Die Zeitung spielt auf ihren Namen an, bildfüllend zeigt sie das berühmte Uhrenblatt des Big Ben. Der Aufmacher ist ebenso historisch wie zeitlos. Die Ausgabe als Denkmal und nationales Klischee. Doch manche mögen an „Safety Last“, den hängenden Mann an der Uhr der Stummfilmzeit denken, andere bemerken, dass der Turm einen Schiefstand hat, wieder andere, dass er ein Wahrzeichen von Kolonialherrschaft und Imperialismus ist. Nicht zuletzt entdecken in London Lebende, dass es sich um ein Archivbild handelt, denn Big Ben ist aktuell gar nicht zu sehen, weil er gerade restauriert wird. Die Times zeigt die Uhr übrigens eine Stunde vor Zwölf, den Zeitpunkt, der für fast drei Jahre zum status quo wurde, aber auch die Uhrzeit, bei der der Brexit heute Nacht in Kraft tritt.

Dasselbe Motiv wählt The Sun. Allerdings ohne Zwischentöne. Der Turm auf dem Titel strahlt wie eine politische Monstranz. “OUR TIME HAS COME”. Zweifel sind ausgeschlossen. The Guardian sieht das anders, in seiner Kurzfassung vermitteln sich nicht Größe und Zuversicht, sondern Geschichtslast, Maßstabsverzerrung und Übermut. „The biggest gamble in a generation“, heißt es im begleitenden Insert. Ein mittelalterlicher Wehrturm, umgestülpt aus einer Sandkastenform, ist halb zerbröselt. Ungeachtet weht der Union Jack wacker, allerdings ein wenig konstruiert wie seinerzeit die US-Flagge auf dem windlosen Mond. Im Hintergrund sind die Kreidefelsen zu sehen, Ankunfts- und Abschiedsmetaphern in wehleidigen Liedern („There will be bluebirds over / the white cliffs of Dover“) und buchstäbliche Borderline des britischen Heimatgefühls. Die Klippen sind allerdings blass und grau. An ihre Kante steigen die seichten Matten des englischen Rasens an, unten zerfallen die Sedimente des gestrandeten Bergfrieds. Gegenläufige Diagonalen deuten auf zwiespältige Verhältnisse. Tatsächlich stürzt ein Riesenstück von Sussex‘ Küste im Juni 2017 in den Ärmelkanal, ziemlich genau ein Jahr nach dem Referendum. Der mächtige Rolling Stone mag eine geologische Reaktion auf die Klimaerwärmung gewesen sein oder eine beachtliche Trotzhandlung eines Landstrichs, der die Entscheidung seiner Bürger*innen mit selbstzerstörerischer Erosion quittiert.

Daily Star, offenkundig ideologisch anders formatiert, feiert das Ende des Wartens mit einer fernsichtigen Google View. Der Blick auf das Land könnte nicht höher ausfallen. Der Titel: „That‘s right, it’s the end of Dry January!“ überschreibt die zwiespältigen Kreidefelsen. Ebensowenig zufällig ist ein kleines Insert links ins Satellitenbild gesetzt, dort wo sich das EU-Mitglied Irland befindet. Auf der Bildmarke lassen drei Glückliche ihr Land hochleben, von einem vierten ist nur die Hand und neuerlich eine Uhr zu sehen. Freilich alle vier mit Pint.

Am frechsten ist Daily Express. Die Zeitung überzieht das Land mit den eigenen Covermotiven der letzten Monate. Sie feiert ihre Wirkmacht als ideologischer Influencer. „YES WE DID IT!“ meint nicht nur den erfolgreichen Brexit und die Stimme des Volkes, sondern auch die eigene Rechthaberei. Bereits The Guardian deutet mit seiner Sandkastenmetapher an, dass die Insel in globaler Perspektive kleiner werden könnte. The Financial Times hegt einen ähnlichen Gedanken und vermittelt, „a mixture of regret and optimism“. Zu sehen ist eine Skulptur, sie stellt Winston Churchill dar, der bekanntlich unbeirrt auf die Splendid Isolation setzte, die wieder Konjunktur hat. Doch unübersehbar ist, dass hinter dem bronzenen Premier, assistiert von einer Standarte brav geblähter Fahnen, die Houses of Parliament eingerüstet sind. Das Empire ist eine unfertige Baustelle. Churchill hat die Hände in den Taschen, der schwere Mantel lastet auf den Schultern. Gedrungen stakst er nach links, in Bildern ein untrügliches Zeichen für Zweifel und wenig versprechendes Ende. Als Statue schreitet PM gegen den Strom, störrisch und genial, mit mürrischer Haltung wie einst Beethoven. Wie geht es weiter? Wie mag das Bildnis von Boris Johnson einmal aussehen?! Clownesk verhuscht und linkisch wie Tom Hulce in Amadeus? Bronze ist wohl nicht das richtige Material. Eine erste Ahnung werden die Zeitungen vom ersten Februar vermitteln, wenn sie wieder Geschichte schreiben, diesmal wohl ohne Zugriff auf Archivmaterial.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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