All Power to the Artists
Außergewöhnlich lang, über die Dauer von fünf Monaten präsentiert Riga, die lettische Metropole, die erste „International Biennial of Contemporary Art“, kurz RIBOCA genannt. Agniya Mirgorodskaya, die junge Gründerin und Verantwortliche der Biennale, Tochter eines russischen Großunternehmers, der an dem Kunstevent kräftig finanziell beteiligt war, hat als Chefkuratorin die aus Griechenland stammende Katerina Gregos eingeladen, die bereits den dänischen und belgischen Pavillon auf der Biennale in Venedig betreute und auch sonst Erfahrungen bei Biennalen gesammelt hat. Ihr Know-how ist in Riga mit Hilfe des ausschließlich weiblich besetzten Teams vorbildlich erfüllt worden. Es macht richtig Spaß sich diese vielfältige Biennale anzuschauen.
Der hohe Anteil an Frauen - nämlich 38 Prozent von 104 eingeladenen KünstlerInnen - vor allem aus den Baltischen Ländern und der nordischen Region sowie Deutschland, Schweden, Dänemark und Holland, spricht für traditionsreiche Woman Power des Nordens ebenso wie für die feministische Untermalung des Ganzen, ohne dass man diesen Blickwinkel explizit herausstreicht.
Das breit angelegte Kunst- und Kulturprogramm der 1. RIBOCA hat als Motto den Titel eines Buches des russischen Schriftstellers Alexei Yurchchaks Everything Was Forever Until It Was No More. Der in der Sowjetunion geborene und an der University of California, Berkely lehrende Autor handelt darin den Untergang des russischen Nachbarn ab. Das eigentliche Thema der Biennale kreist demzufolge intensiv um das Schlüsselwort Veränderung, welches in instabilen Zeiten überall geistert. Was man hier entschieden ändern möchte, ist das Image des Landes, das sich immer noch in der Transformationsphase zum neoliberalen Kapitalismus befindet und sich trotz seiner Unabhängigkeit (ab 1991) weiterhin vor russischer Bevormundung fürchtet. Mirgorodskaya, die eigentlich in St. Petersburg wohnt, sieht jedoch im postindustierellen Riga samt seiner besonderen „Psychogeographie“ zwischen Ost und West ein starkes überregionales Entwicklungspotenzial, u. a. durch die kulturelle, künstlerische und auch erhebliche architektonische Vielfalt der Stadt: von mittelalterlicher Altstadt bis hin zur enormen Vielzahl der einzigartigen Jugendstilhäuser.
Die acht Ausstellungsorte der Biennale entfalten abwechslungsreich die Schönheit und das Gemisch der Stadt. Der Kunst–Parcours beginnt in der ehemaligen Uni-Fakultät für Biologie nahe dem alten Stadtzentrum und führt über die Bolshevichka Textilfabrik, die jetzt das Studio des bekannten lettischen Künstlers Andris Eglitis und die Brick Bar beherbergt bis hin zur eigentümlich modernen (70er Jahre) Art Station Dubulti im reizenden Ferienort Jurmala an der Ostsee. Große Aufmerksamkeit an den verschiedenen Plätzen erwecken skulpturale Arbeiten im Freien. Sie wurden alle im Auftrag der Biennale produziert und die Schaffenden wurden korrekt entlohnt, worauf die Organisatorinnen dezidiert starken Wert legten.
Den aktuellen politischen Akzent setzt zum Auftakt der YBA-Künstler Michael Landy mit seinem humorvollen Brexit Kiosk (Business as usual), in dem er alle modernen Devotionalien (T-shirts, Becher, Zeitungen), die mit dieser rapid in Erfüllung gegangenen Sensation zusammenhängen, verkaufen lässt. Wenig bunt, dafür aber im Rauch gespenstisch glimmend und rückwärtsgewandt sieht dagegen die sich auf die Architektur der Treibhäuser des Industriezeitalters beziehende luftige Skulptur „Palace Ruin“ von James Beckett (geb. 1977, Zimbabwe) aus. Kritisch den Blick auf die Rolle öffentlicher Räume werfend wird dieses Denkmal auch als Bühne und Podium für verschiedene Konzerte und Lesungen während der Biennale genutzt. Nicht weit entfernt im Park befindet sich ein Palast anderer Art. Die aus diversen Materialien aus der Umgebung zusammen gebastelte Installation von Andris Eglitis und Katrina Neiburga - The Nest – ist eine Nachempfindung von Tiernestern die ein mystisches Ökosystem mit Sumpf, Irrlichtern und versunkenen Objekten beherbergt.
Dass im Zeitalter der spätkapitalistischen Akzeleration Vieles fragwürdig geworden ist, insbesondere wenn Staaten und Megakonzerne unsere Kommunikation verwerten, darauf zielt die fast zum Markenzeichen dieser Biennale gewordene Großskulptur Pinpointing Progress des Holländers Maarten Vanden Eynde. In Anspielung auf die berühmten Bremer Stadtmusikanten, deren Nachbildung in Rigas Altstadt zu sehen ist, hat der Belgier, um den evolutionären Progress zu visualisieren, unterschiedliche, in Riga produzierte und nach Russland sowie auch anderswohin exportierte Produkte der neuen Technologien vom Bus über Fahrrad bis zum Computer und als Krönung einen Transistor nach Größe und Produktionsdatum eindrucksvoll aufeinandergestapelt. Damit hat Eynde der Lokalindustrie ein süffisantes Denkmal geschaffen. Mit überdimensionalen künstlerischen Maßstäben arbeitet ebenfalls der Designer und Fotograf Erik Kessels (geb. 1966, Holland). Um den politisch-sozialen Umwälzungen Ausdruck zu verleihen, hat er im modernen Stadtviertel Sporta2Square auf hölzernen Stellagen mehrere Billboards angebracht, die aus der Ferne wie eine Autobahn aussehen und aus der Nähe die 675,5 Kilometer lange Menschenkette zeigen, die 1989 aus Protest gegen die sowjetische Besatzung in den baltischen Staaten gebildet wurde.
Wie radikal die sogenannten technologischen Innovationen soziale Verhältnisse im Alltag verändern können, reflektieren mehrere der Künstlerinnen, darunter Melanie Bojanos (geb. 1978, Holland) Video Progress vs Regress, in dem rund hundert Jahre alte Menschen über ihre Entfremdung gegenüber der Realität berichten, oder Maria Kapajeva (geb. 1976, Estland). In ihrem Textilbild 12.000 handelt sie anhand der Logoabdrücke einer liquidierten Textilfabrik in ihrem Land die immensen Verluste an Jobs und Lebensqualität von tausenden ArbeiterInnen ab, unter anderen auch ihrer Eltern.
Andere Künstlerinnen wie Anne Duk Hee Jordan (geb. 1978) aus Berlin oder Diana Lelonek (geb. 1988) aus Warschau widmen sich mit viel Enthusiasmus oder humorvoller Fantasie humanen/inhumanen Transformationen und Experimenten im Bereich des Ökosystems der Zukunft samt ihren Details. In Jordans Ziggy and the Starfish - einer audio-visuellen Installation mit einem Bett im abgeschirmten Raum - wird über Sex unter Einfluss des Klimawandels aus der Perspektive des Ozeans geforscht und imaginiert. Angeboten wird eine nahezu unvorstellbare Vielfalt des Sexuellen, die die Auswirkungen chemischer Schadstoffe auf die Libido spürbar macht und regressiv weiterzeichnet. Nicht so sehr die Menschen als vielmehr andere Hybridformationen der Natur im Anthropozän stehen im Fokus der Forschung und Klassifikation für Diana Lelonek. In mehreren weißen Vitrinen hat die Künstlerin diverse von Menschen in den Müll geworfene Alltagsobjekte im Rahmen ihres Projektes und der Parainstitution Center for the Living Things (2016-2018) zur Schau gestellt. Zu sehen sind bizarre und wunderschöne filigrane Ausformungen der „Müllpflanzen“ - ein von der Natur angeeigneter Abfall der menschlichen Über/Produktion – und gleichzeitig eine Umkehrung der Linearität des Fortschritts.
Und um diese Umkehrung, das auf den Kopf stellen, Menschen in den Zoo gemeinsam mit anderen Spezies zu stecken wie in der spielerischen Arbeit The Human Zoo von Erik Kessels, um Rekombination und anders geartete Hybridität geht es in den besten auf der RIBOCA präsentierten Kunstwerke.
RIBOCA 1
2. Juni bis 28. Oktober 2018
--> www.rigabiennial.com