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Um- und Aufwertungen

Die documenta 14 in Athen überzeugt mit ihrem engagierten Versuch, Kunst der letzten 100 Jahre abzuklopfen auf ihr politisches Potenzial. Dabei ereignen sich erhellende Umwertungen von vorschnell als gültig erachteter Kunstgeschichtsschreibungen. Bereits auf den ersten Blick fällt die stilistische Vielfalt auf der documenta 14 in Athen auf. Jedes Medium ist dort vertreten, Malerei und Skulptur, Film und Video, Tanz und Performance, Raum- und Soundinstallationen, Buch- und Fotoarbeiten, TV- Und Radiokunst … Das Spektrum der gezeigten Arbeiten zeichnet sich zudem dadurch aus, dass Kunst aus der gesamten Welt aus den letzten rund hundert Jahren zu sehen ist. Diese nur scheinbar beliebige Vielfalt nun macht durchaus Sinn, spiegelt sie nämlich die Intensität, mit der von der documenta 14 nach Möglichkeiten politischer Formulierungen in der Kunst gesucht wird. Eben dieses also ist der gemeinsame Nenner aller Artefakte hier: der Anspruch politisch relevant zu sein. Bei dieser kuratorischen Recherche ereignen sich spannende Um- und Aufwertungen bisher im etablierten (westlichen) Kunstbetrieb diskreditierter Kunstformen. Ein Beispiel hierfür ist der sogenannte „sozialistische Realismus“, der auf der documenta 14 durchaus prominent vertreten ist. Im zweiten Stock des Nationalmuseums für zeitgenössischen Kunst (EMST) überrascht Adam Szymczyk, der künstlerische Leiter der documenta 14, nämlich mit einem ganzen Raum, in dem Bilder des sozialistischen Realismus ausgestellt sind. Handelt es sich da um eine verquere „Nostalgie“, wie große Teile der bürgerlichen Kunstkritik prompt behaupteten? Um eine Abkehr von der Idee ästhetischer Avantgarden? Keineswegs, vielmehr erinnern diese Malereien nicht nur an Zeiten, an denen der globale Kapitalismus sich noch gegen real existierende sozialistische Alternativen wehren musste, sondern auch daran, dass damals vor allem der Abstrakte Expressionismus – der auf der documenta nicht ausgestellt ist – als im Westen akzeptierte politische Kunst galt, also eine Kunst, die einerseits geprägt war durch gänzliche Inhaltslosigkeit, andererseits durch die Option des freien expressiv-individuellen Ausdrucks, der im kommunistischen Osten den Menschen, so die offizielle Lesart damals, verwehrt wurde. Dass der Preis für diese künstlerische Freiheit der Verzicht auf jedwede konkrete gesellschaftliche Kritik war und das diese ach so freie Kunst damals vom US-amerikanischen CIA als Mittel des „Kalten Krieges“ subventioniert und instrumentalisiert wurde, also ebenfalls alles andere als „frei“ war, all dieses blendete man nicht nur damals gerne aus. Nicht so Adam Szymczyk: Er rückt mit Arbeiten u. a. von Sotir Capo, Pandi Mele und Spiro Kristo, die vor allem Aspekte aus dem sozialistischen Alltag sowie militärische Momentaufnahmen zeigen, wieder den sozialistischen Realismus ins Blickfeld der internationalen Kunstszene. Doch nicht nur „negative“ Referenzen ausgehend vom sozialistischen Realismus setzt Szymczyk auf „seiner“ klug inszenierten Documenta in Szene, sondern auch welche, die die Verwandtschaft zu dessen Ästhetik betonen. So etwa Piotr Uklanskis neorealistische Bilder nach Leni Riefenstahl und vor allem auch der narrative Bilderzyklus „Die dramatische Geschichte des Kongo“, 1973, im naiv-folkloristischen Stil von Tshibumba Kanda Matulu, der im Athener Benaki-Museum präsentiert wird. All diese Arbeiten folgen der Forderung Jean-Paul Sartres an politische Kunst, dass in ihr ein „Primat des Wortes“ Sachverhalte, wie hier z. B. soziale Gerechtigkeit und Imperialismus, anschaulich zur Disposition stellt, eben durch die Anschaulichkeit ihrer realistischen Darstellungen. documenta 14 Athen 8. April - 16. Juli 2017
Mehr Texte von Raimar Stange

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