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Entdeckungen - Die 20. Diagonale in Graz

Sie bot ein Bild wie die schaumgeborene Venus des Sandro Botticelli: Mit der einen Hand bedeckte sie ihre nackten Brüste, mit der anderen die Scham. Das lange Haar fiel ihr bis über die Hüften. Verführt von diesem Anblick, kamen die Mitglieder des Nudistenklubs, umarmten sie und hießen sie willkommen. Dies war nur eine der überraschenden Szenen auf den Leinwänden der 20. Ausgabe der Diagonale in Graz. Sie entstammt dem Spielfilm „Die Liebhaberin“, der den Großen Diagonale-Preis in seiner Sparte gewann, und bezeichnet die Wende innerhalb der lakonischen Erzählung um eine Hausangestellte in einem schicken argentinischen Villenviertel, der ihren Ausbruch in die Freiheit markiert – und die Weichen unumkehrbar in Richtung auf ein anarchisches Finale stellt. Inspiriert von der Eröffnungsrede der Diagonale-Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber, die ein Plädoyer gegen die Angst und für die Neugier hielten, begab man sich erneut erwartungsvoll ins Dunkel der Grazer Kinosäle. Zu entdecken gab es dort etwa die sensible, ebenfalls mit dem Großen Diagonale-Preis ausgezeichnete Doku „Was uns bindet“ von Ivette Löcker über die komplizierte Beziehung ihrer eigenen Eltern. Ein solches Projekt erfordert Mut und Fingerspitzengefühl, denn die Eltern leben schon seit Jahren getrennt, das aber im selben Einfamilienhaus. Es sind kleinste Gesten, oft nur ein Zögern oder ein winziges Zucken, das die Spannung zwischen den Protagonisten verrät. Ein Trauma in der eigenen Familie thematisiert auch Levin Peter mit „Hinter dem Schneesturm“, einem in seiner suggestiven Kraft sehr eindrucksvollen Film über die Vergangenheit des Großvaters des Filmemachers als Wehrmachtssoldat in der Ukraine. Häufig ist nur der greise, inzwischen verstorbene Mann im Bild, wie er vor der Kamera in seine Erinnerung entgleitet. Sein Enkel hat seine Geschichte zusätzlich recherchiert und verzichtet letztendlich darauf, ihm ein – wie auch immer geartetes – Geständnis zu entlocken. So bleibt vieles unausgesprochen – und damit weiterhin aktiv "im Raum". Um die Frage von Schuld geht es dagegen sehr viel deutlicher in dem schon viel diskutierten Dokumentarfilm „Ein Deutsches Leben“ über Goebbels‘ Sekretärin Brunhilde Pomsel, die einerseits eine mit ihren über 100 Jahren eindrucksvoll eloquente Person war (sie starb dieses Jahr), sich andererseits aber nur als naive Mitläuferin darstellt und jede Mitschuld an den Verbrechen der Nazis von sich weist. Der Film schafft das Kunststück, ihre Perspektive nicht zu affirmieren: Das banale Böse kann unmöglich mit dem Guten verwechselt werden. Mit einem anderen, diesmal kommunalen Trauma befasst sich der exzellent recherchierte und spannend erzählte Dokumentarfilm „Sühnhaus“ der Journalistin, Filmwissenschaftlerin und –kritikerin Maya McKechneay. Was wie der Titel eines Horrorfilms klingt, war vielmehr der Name eines Mietshauses, das Kaiser Franz Joseph I. an der Stelle des am 8. Dezember 1881 abgebrannten Wiener Ringtheaters errichten ließ. Mindestens 384 Menschen starben bei diesem Unglück. Heute befindet sich auf demselben Grundstück die Landespolizeidirektion von Wien. Die Filmemacherin rollt die Geschichte aller drei Bauwerke auf – und findet überraschende Verbindungen, die in einen wahren Thriller über Wut, Macht, Gehorsam und einen Ort münden, an dem schon die hingerichteten Revolutionäre von 1848 begraben worden waren. „Sühnhaus“ ist ein erhellender Film über ein Stück düstere Wiener Stadtgeschichte. Es gab vieles, über das man gerne mehr schreiben würde, das aber aus Platzgründen nur erwähnt werden kann: „Auf Ediths Spuren“, ein Dokumentarfilm über die aus Wien stammende Fotografin Edith Tudor-Hart und ihre geheime Tätigkeit für den sowjetischen KGB; „Free Lunch Society“, ein wichtiger, hochinteressanter Film über die tatsächliche Machbarkeit des bedingungslosen Grundeinkommens; „Cinema Futures“ über die Zukunft von Filmmaterial in Zeiten der bedingungslosen Digitalisierung; „There are no Syrian refugees in Turkey“, ein Film von Oliver Ressler über die Perspektiven von syrischen Flüchtlingen in Istanbul; der neue animierte Essayfilm von Bady Minck „MappaMundi“ über die faszinierende Geschichte der Weltkarten; der ästhetisierte Experimentalfilm „personne“ von Michaela Schwentner über weibliche Identität und das Sichzeigen, Beobachten bzw. Gesehenwerden; Katrina Daschners surrealer, sinnlicher Kurzfilm "Pferdebusen“, der den Diagonale-Preis für Innovatives Kino gewann; „Stabat Mater“, ein neuer, zugleich rätselvoller wie atmosphärischer Film von Josef Dabernig; die mit den Eigenschaften von Film als Medium bzw. Material arbeitenden Experimentalfilme "When Time Moves Faster“ von Anna Vasof und "Double 8“ von Christiana Perschon, „Donald Judd and I“ von Sasha Pirker, „LIQUID SONIC PALINDROME“ von Lisa Kortschak, "PANORAMIS PARAMOUNT PARANORMAL. Three Times a Film” von Constanze Ruhm und Emilien Awada – und und und. www.diagonale.at
Mehr Texte von Andrea Winklbauer

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