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Social Glitch - Radikale Ästhetik und die Konsequenzen extremer Ereignisse: Dramatische Aktualität

Das Ausstellungsthema könnte nicht näher an der Dramatik der Gegenwart situiert sein. Der punktuell näher rückende asymmetrische Mehr-frontenkrieg fordert tagtäglich noch mehr Todesopfer, Panikreaktionen und menschliche Katastrophen. Was sich ereignet ist zugleich eine Bewaffnung mit Bildern, eine Emotionalisierung durch Datensätze, ein in Umlaufbringen immer neuer Ideologeme. "Glitch" nannte man für einen kurzen Moment in der digitalen und Elektronikavantgarde die Ästhetik des Fehlers oder der Störung; also den bewussten Umgang mit akustischen Verzerrungen in den Sounds aus dem Laptop oder visuell etwa, wenn ein pdf-file im Zuge des Hochladens auf dem Computer sich lediglich als Ansammlung abstrakter Zeichen darstellte. Das Lexikon spricht von einem "Störspannungsimpuls, der einen elektrischen Vorgang überlagert". Was sich aber tatsächlich, in der Realität ereignet, ist der helle Wahnsinn mit nachhaltigen Folgen, also wesentlich mehr als bloß eine Störung. Das Video des im Vorjahr verstorbenen Harun Farocki "Serious Games 1, Watson is Down" (Ernste Spiele 1, 2010), verdeutlicht nur allzu deutlich, was auch schon im Zuge des ersten Golfkriegs analysiert wurde: Die Überschneidung von Kampfhandlungen und Kriegsszenarien in der Wirklichkeit mit deren Übersetzung auf dem Computer-Bildschirm. Simulation und Realität werden eins, das virtuelle Ziel ist zugleich ein menschliches draußen im Score der gegenseitigen Aufrechnung und Hochschaukelung. Die elektronische Animationslandschaft stimmt überein mit einer Geländesituation in Afghanistan. Zu sehen in dieser Arbeit ist eine militärische Übung in einem Klassenraum des Stützpunkts der Marine in 29 Palms, Kalifornien. Noch viel zynischer wurde sie dieser Tage von der Realität eines Flugzeugabschusses eingeholt. Ja, diese Art von "Glitch" meinen die KuratorInnen tatsächlich, wenn sie algorithmisch geschaffene Realitäten, soziale Beziehungen und das Überkippen ins Fehlerhafte zusammenbringen. Die Konzeption, dieser spannenden Ausstellung als konzentriertes Statement zur Gegenwart ist eine logische Konsequenz von Sylvia Eckermann und Gerald Nestler, gemeinsam mit Maximilian Thoman, aus deren künstlerischer und theoretischer Arbeit. Das Angenehme an diesem nach mehreren Seiten offenen Projekt, ist jedoch, dass es sich nach einem konzentrierten politischen Exposeé mit Medienarbeiten von Christina Goestl, Nabil Ahmed oder Matthias Kessler in verschiedene Richtungen öffnet: Zum Beispiel mit "Parlament" (2009) von Thomas Feuerstein. Ähnlich wie in einigen seiner Versuchsanordnungen lässt der Künstler hier in einem gläsernen Bioreaktor Myxomyceten (Schleimpilze) wachsen, die sich unter bestimmten Bedingungen zu Riesenzellen zusammenschließen. Damit es dazu kommt, müssen sich Ablagerungen der Kulturstämme dynamisieren und sich innerhalb eines pyramidal strukturierten Gefäßes auf Nährstoffsuche in eine obere Kammer bewegen. Eine Kette metaphorischer Verschränkungen als linguistisch fundiertes, künstliches System. So ergeben sich verschiedene Lesbarkeiten auch auf formaler Ebene. Beispielsweise können die bis in die Makrobereiche vollzogenen detaillierten Analysen politisch-ökonomischer Machtbeziehungen das amerikanischen Künstlers Mark Lombardi – der sich im Jahr 2000 erhängt hat – auch als Interpretation des Mediums der Zeichnung und der Infografik verstanden werden. Eine Reihe mathematischer Notizen als Kreidezeichnung von Gerald Nestler auf einer Tafel, die performativ in Kooperation mit Kollegen entstand, bietet dazu einen interessanten Kontrast. Dass die Ausstellung als politischer Diskurs über die Ebene bildgebender Medien zu ökonomisch-kriegerischen Auseinandersetzungen, Umweltkatastrophen, Börsencrashes oder persönlicher Überwachung mit mehr als 20 vertretenen Projekten und Einzelpositionen bereichsweise ausfranst, dass man gelegentlich so etwas wie ein Generalthema aus den Augen verlieren und somit vermissen könnte, je weiter man in die Spirale eindringt, ist keineswegs eine Schwäche des Projekts. Egal, ob von KuratorInnenseite her absichtlich oder unabsichtlich so angelegt, dadurch jedenfalls entgeht die Ausstellung der Gefahr, ins Ideologische zu entgleiten. Allein schon wegen der Länge der Video-/Medienarbeiten verlangt sie ihrem Publikum allerdings Zeit zur Auseinandersetzung ab. Und das ist gerechtfertigt, denn es wurde präzise und überlegt gearbeitet. Von Station zu Station öffnet sich ein jeweils eigener Bereich. Inhaltlich Gesellschaftskritik und kritische ästhetische Praxis korrelieren. Wie schön aber wäre es, angesichts der aktuellen politischen Situation, wenn bloß einige der Werke nicht mehr aktuell wären.
Mehr Texte von Roland Schöny

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Social Glitch - Radikale Ästhetik und die Konsequenzen extremer Ereignisse
25.09 - 05.12.2015

Kunstraum Niederoesterreich
1010 Wien, Herrengasse 13
Tel: +43 1 90 42 111, Fax: +43 1 90 42 112
Email: office@kunstraum.net
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