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Sich-Sehen

Zur Dynamik der Rückbezüglichkeit Edmund Sackbauer, einer der stets zitierbaren Philosophen Österreichs – zumindest innerhalb seiner Binnengrenzen – ereifert sich in der vorweihnachtlichen Episode über den Wunsch seiner Tochter, dieses Jahr das Fest alleine und nicht bei der Familie verbringen zu wollen. „Willst du ahh für-sich sein?“ fragt er den Sohn Karli der Emanzipationswilligkeit seiner Zöglinge mehr als nur überdrüssig. Was in der Aufregung kaum durchsichtig wird: Mundl spricht unversehens eine Hegelsche Wendung von epochaler Bedeutsamkeit an. In seinem Zorn bricht sich eine zentrale Vorstellung der Moderne Bahn, wonach Selbstbezüglichkeit die Grundlage aller Seinsbedingung sei. Das „Für-sich-sein“ ist der Zustand des Weltgeistes in der Selbstentdeckung, erstmals erlernt durch das romantische Subjekt, das seine Befähigung zu geschichtsfähiger Kultur erfährt. Warum? – weil der Geist in der Reflexion zu sich findet im Spiegel des Durchgangs durch den Anderen. „Für-sich-sein“ bedeutet das Gegenteil von Isolation oder solipsistischer Intimität. Es ist die Voraussetzung für alle Erkenntnis. Im reinen „an-sich“ bleibt sich der Geist nämlich leer. Mehr als ein Jahrhundert später wird Theodor W. Adorno sich nicht nur an Hegel abarbeiten, sondern die Schübe der Moderne in dieser Denkfigur entdecken. Er wird sich insonderheit des „sich“ annehmen und zwar in einer für ihn typischen sprachlichen Pirouette. Einer ungewöhnlichen stilistischen Eigenart zufolge wird Adorno das „sich“ an das begleitende Verb heften, auch wenn Grammatik und üblicher Sprachgebrauch eine Trennung erforderlich machten. Das „sich“ wird sich stets am Ende des Satzes anfügen oder in seiner Stilistik gesprochen: es wird am Ende des Satzes sich anfügen. Damit erhält das „sich“ eine Bedeutung, die nur nachgereicht erscheint, in Wahrheit aber die Rückbezüglichkeit betont und an die erste Stelle des Gedankens rückt. Auch in der Phänomenologie findet das „sich“ zu prominenter Stellung. Wer Erfahrung aus Begegnung denkt, wird ohne das „sich“ nicht auskommen. Kein Sprechen ohne ein „sich-vernehmen“, keine Erfahrung ohne „sich-selbst-zu-erfahren“, kein sehen ohne „sich-zu-sehen“. Detto wird in der Kunst im 20. Jahrhundert die Selbstbezüglichkeit zu einem Qualitätskriterium. Das gilt für die reproduktionsfähigen Medien insbesondere. Klar eignet sich die Fotografie für diesen Beweis dabei am besten, da sie mit inneren Spiegeln ausgestattet die Reflexion schon in sich trägt. Dieter Kiessling: "LM, DK, 2013", Fotografie, 85 x 126 cm, aus der Serie: "people in mirror are closer than they appear", Courtesy Hengesbach Gallery Ab den 1980er Jahren erwachen jedoch erste Kritiken, die dem Fortschritt der Erkenntnis, der kurzen Schleife der Medienreflexivität und der Korrekturbefähigung des selbstbeobachtenden Verstandes zu misstrauen beginnen. Eine andere Denkweise tritt zutage. Vor einem Jahr erschien im Kadmos Verlag ein kurzweiliger Interviewband, in dem der 2011 verstorbene Soziologe Friedrich Kittler die Motive seiner Gesellschaftskritik preis gibt. Er hätte sich gegen das „sich“ gewehrt und es einfach gestrichen, meint Kittler. Nicht etwas „ereignet sich“ oder etwas „denkt sich“, sondern viel einfacher: etwas passiert und jemand denkt. Mit dieser Sprachbereinigung sei es möglich, Adorno zu entblößen, meint Kittler keck, zudem sei es ihm um Phänomene wie die Liebe gegangen. Und hier sagt man: ich liebe dich und – wenn es gut geht – liebst du mich. Oder: ich fotografiere dich und du fotografierst mich. Auf den ersten Blick hat Kittler durchaus Recht. Warum den Umweg über den Rückbezug, der doch nur abfedert und verheimlicht, was offen und geradlinig zutage treten könnte? Warum mit dem Spiegel die freie Sicht auf das Ich unnötig blockieren? Kittler favorisiert eine vom „sich“ befreite Sprache in Anlehnung an die Maschinen, deren materialistische Basis ihm das wichtigste Anliegen ist. Sein Gedankengang findet bekanntlich viele Anhänger. Und hier ist auch das Problem. Was als Projekt gegen die idealistische, die „sich-versessene“ Moderne angestoßen wird, scheint heute allgegenwärtig und kaum des philosophischen Nachdrucks nötig. Das „sich“ und seine Denktradition sind in eine Moderne, die bereits Vergangenheit ist, abgedrängt. Die maschinelle Technik bedingt, dass der Druck des Transitiven dominiert. Wer sich in Facebook präsentiert, erzählt nicht von sich, sondern wendet sich an Empfänger. Postings lassen dabei nicht selten die gebotene Rückbezüglichkeit vermissen. Sie verlieren den Hintersinn des „für-sich-seins“, vielleicht auch den Wunsch von Mundls Tochter sich im Eigenheim zu finden. Vielmehr belegen sie den Drang, bemerkbar zu werden ohne ein „sich“. Man möchte vernehmbar werden ohne Selbst und gegenwärtig wirken ohne Zeit. Das Ich wird aggressiv transitiv und versetzt andere in den Zustand permanenter Sensation in zeitzonenunabhängiger Erregung. -- Siehe: Till Nikolaus von Heiseler, Friedrich Kittler(s) Flaschenpost für die Zukunft, Kulturverlag Kadmos Berlin 2013.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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