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Raphael Ravenscroft 1954 – 2014

Zeit, mal wieder Diedrich Diederichsen „Über Pop-Musik“ zu Wort kommen zu lassen. Unter der Zwischen-Überschrift „Das phonographisch Besondere“ fasst er den typischen Moment der Unmittelbarkeit, da er einen packt, folgendermaßen zusammen. Nein, er fasst ihn nicht zusammen, wie insgesamt sein Opus Magnum die Erfahrung mit Pop weniger in lapidare Passagen als in den epischen Erzählstrom einer lebenslangen Beschäftigtheit einfließen lässt. Er mehrt ihn aus. So also Diederichsen: „Musik, die man immer schon kennt, wenn man sie hört, doch die eine ans Herz und an die Nieren gehende Besonderheit in einem Schrei, einem Räuspern oder Zögern des Sängers oder einer bizarren Klangfärbung der Hammondorgel punktuell gespeichert hat, die so stark, so drastisch und dramatisch aus dieser Umgebung herausragt, dass sie uns als hyperreale überrrascht, und wir ganz unwillkürlich an sie unsere eigene Lebendigkeit, unseren eigenen Moment beim Hören anhängen, ihn von diesem ausgezeichneten Moment encodieren lassen. Ohne dass wir das wissen. Und uns endgültig in diesen Song verlieben, wenn wir diesen längst vergessenen encodierten Moment decodieren. Beim Wiederhören.“ Roland Barthes` Konzept des Punctum (über das kürzlich Thomas Trummer hier geschrieben hat), surrealistische Effekte der Plötzlichkeit, aber auch eine durchaus gewöhnliche pubertäre Anwandlung zu fliehen vermengen sich in dieser Theorie des musikalischen Moments. Womöglich hatte man einen solchen Augenblick, so wie ich, an diesem Dienstag auf der Zunge, hat ihm vielleicht auch hinterher gehört, als bekannt wurde, dass Raphael Ravenscroft gestorben ist. Das ist der mit dem Saxophon-Intro zu Gerry Raffertys 1978er „Baker Street“. Rafferty, der vor einigen Jahren am Alkohol gestorben ist („Stuck in the battle with booze“, titelte der „New Scotsman“ in Anspielung auf sein frühes „Stuck in the Middle with You“), sang darin vom wilden Leben in den Straßen Londons und von der Unmöglichkeit, damit aufzuhören. Foto: Roy Anderson/Family handout/PA Ravenscroft gab dieser ins Unendliche verlängerten und damit unbrauchbar gewordenen Wildheit die Verdichtung auf 30 Sekunden. Es war ein Riff, wie es deutlicher nicht sein konnte. Als am Ende des Liedes die Gitarre das Saxophon aufgreift und dessen Thema variiert, wird klar, dass sich Pop auch in einem Stück Blasinstrument erfüllen kann. Jetzt geistert in den Nachrufen der Betrag herum, den Ravenscroft als Studiomusiker für seinen Prolog bekam: 27 Pfund, und zwar einmalig. Der Betrag wird verrechnet mit den 80.000, die Rafferty Jahr für Jahr an Radio-Tantiemen einstrich. Doch sagen wir es so: Bei Warhol braucht man ein Leben, um für 15 Minuten berühmt zu sein; Ravenscroft benötigte eineinhalb Minuten, um für ein Leben berühmt zu werden.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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