Werbung
,

punctum und unicum

Die Ermächtigung des Realen über seine Bilder


Harun Farocki, Ernste Spiele I: Watson ist hin, 2010, Videostills, Courtesy: Galerie Thaddaeus Ropac, Paris/Salzburg

„The Model“ heißt die Ausstellungshalle, die über der kleinräumigen Stadt wie ein minimalistisches Baumhaus ragt. Seamus Kealy, der neue Direktor des Salzburger Kunstverein, war schon in Sligo, einer Hafenstadt am nordwestlichen Rand Irlands, aufgefallen. Kealy zeigte dort eine Personale von Harun Farocki. Farocki, der präzise Kritiker und Sehkundige, und in diesem Sommer verstorben, studierte angewandtes Filmmaterial, Bildillusionen, die nicht zur Überzeugung und zur Unterhaltung täuschend echt sind, sondern zur Erprobung und als Stresstest. Farocki war überzeugt: Bilder verlangen eine Art Täterprofil; – zum Beispiel jene, mit denen Marines darauf trainiert werden, sich in den Straßen Bagdads vor Heckenschützen und Selbstmordattentätern zu bewehren. Zum Studium und der Entscheidungssicherheit dienen Bilder und Filme, die ihre Herkunft aus der Videoästhetik nicht leugnen, doch anders als diese wirklich auf Kampferprobung abheben. In seiner ersten Salzburger Ausstellung wagt sich Kealy in ein ähnliches Metier, doch subtiler, mit Referenz zur kultivierten Fototheorie und verfasst im Salongespräch des Persönlichen. „Punctum“ nennt sich die Ausstellung in Anlehnung an Roland Barthes Begriff zur Fotogeschichte. Kealy lud 50 Gäste ein, Fotos auszuwählen. Der Grund: punctum ist nach Barthes die mysteriöse Leerstelle in einem Bild, das irritierende Detail, ein vager Ort, von dem aus dem Bild Betrachter/innen in Beschlag nimmt. Im Gegensatz zum studium, allem Erlern- und Rekonstruierbarem an der Kunst, das schon Adorno als zu gelehrig kritisierte. Das punctum ist eine vergessene Evidenz. Tatsächlich. Doch heute scheint Wahrnehmung mit anderen Erfordernissen konfrontiert. Es sind nicht Winzigkeiten, durch die Bilder anziehen, sondern immer öfter Unfassliches und miese Großartigkeiten. Vor allem medial distribuierte Bilder schweißen ihre Gewalt zusammen, schaffen Grauenamalgam und Aufregungsschauer. In solchen Bildern ist das punctum zu einem unicum geworden. Gerhard Richter, September 2009, Courtesy: the artist and Marian Goodman Gallery, New York/Paris Eine neue Theorie müsste sich mit dem unicum auseinandersetzen, den bewegten Monstren. Die Kunst wird darin eine Rolle spielen , jedoch nur eine, in der sie nicht genötigt wird, mit tatsächlichen Überwältigungen zu konkurrieren. Denn wenn sie gegen tatsächliche Macht ankämpft, verkommt sie nicht selten zum Dekor. Selbst Adorno meinte, Gesinnung ist nicht genug. Aber auch das Gegenteil, die Gelassenheit kann irritieren. Gerhard Richter, eigentlich Garant für famose und diskrete Bilder, wird dem Trauma von 9/11 nicht gerecht. In einem Kleinformat zieht er zähe Schlieren über ein allzu bekanntes Sujet. Die Farbbahnen sind gestische Spur und Andeutung mörderischer Flugbahn, jedoch nicht mehr als die Rückschau halb versiegter Erinnerung. Wir bemerken schnell: was durch Übermalung zur Kenntlichkeit gebracht wird, ist dazu verdammt, nicht zu versickern. Jedes neue Bild, das von diesen Bildern gefertigt wird, neigt zu einem Götzendienst, der kultisch umzirkelt, was er verdammen möchte. Aufsässigkeit und Zudringlichkeit haben eine unerträgliche Sättigung erreicht. Aber warum? Wohl deshalb, weil das punctum sich veränderte, sich dehnte, vom Punkt zur Fläche. Wer Filme, Videodokumente und Fotos des 11. September genau betrachtet, bemerkt, dass es nicht Details sind, an die sich das Bild heftet, sondern die Ganzheit der Bilder. Und wie in einer paradoxen Umkehrung erscheinen uns die allgemeinen Schemen zutiefst persönlich, obwohl niemand behaupten kann, nur er wäre getroffen. Wir alle können Auskunft geben, über Ort und Zeit, als wir diese Bilder, ja dieses Geschehen, das erste mal wirklich sahen. Doch das ist nicht das individuelle punctum, sondern der hysterische Schauer eines kollektiven unicum.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

Werbung
Werbung
Werbung

Gratis aber wertvoll!
Ihnen ist eine unabhängige, engagierte Kunstkritik etwas wert? Dann unterstützen Sie das artmagazine mit einem Betrag Ihrer Wahl. Egal ob einmalig oder regelmäßig, Ihren Beitrag verwenden wir zum Ausbau der Redaktion, um noch umfangreicher über Ausstellungen und die Kunstszene zu berichten.
Kunst braucht Kritik!
Ja ich will

Werbung
Werbung
Werbung
Werbung

Ihre Meinung

Noch kein Posting in diesem Forum

Das artmagazine bietet allen LeserInnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu Artikeln, Ausstellungen und Themen abzugeben. Das artmagazine übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt der abgegebenen Meinungen, behält sich aber vor, Beiträge die gegen geltendes Recht verstoßen oder grob unsachlich oder moralisch bedenklich sind, nach eigenem Ermessen zu löschen.

© 2000 - 2024 artmagazine Kunst-Informationsgesellschaft m.b.H.

Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Bezahlte Anzeige
Gefördert durch: