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Hauptstraße 85a

An den Anfang des Klassikers zum Thema, seinem 1919 erschienenen Aufsatz „Das Unheimliche“ setzt Sigmund Freud ein langes Zitat aus dem Wörterbuch. „Am interessantesten“, so Freuds Resümee, sei, „daß das Wörtchen heimlich unter den mehrfachen Nuancen seiner Bedeutung auch eine zeigt, in der es mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt“. Vom Traulichen zum Grauslichen, stellt der Meister fest, ist es nur ein kleiner Schritt. Der Terror liegt auf dem Trottoir, und je beflissener man sich abschottet in seine kleine Welt hinein, um so strammer stehen die Dämonen bei Fuß. Die Synagoge im rheinischen Stommeln, 25 Kilometer von Köln entfernt, lädt als Exempel deutscher Geschichte natürlich ein, über derlei Zusammenhänge nachzudenken. Als eine von ganz wenigen hat sie den Nazi-Terror überlebt, als Gedenkstätte ihrer selbst wird sie seit 1991 von Künstlern bespielt. Einmal im Jahr gibt es eine Intervention, dargeboten von Größen wie Lawrence Weiner, Sol LeWitt, Richard Long oder Rosemarie Trockel. Ein wenig problematisch ist die künstlerische Inkompetenzkompensationskompetenz vor Ort schon, man kann nichts richtig falsch machen, aber auch nichts richtig richtig. Synagoge Strommeln, Gregor Schneider, © Bidrecht, wien 2014 Am 12. März 2006, es ließ sich aus nahe liegenden Gründen nur an einem einzigen Tag realisieren, pumpte Santiago Sierra die Abgase von sechs PKWs in den Innenraum, die Assoziationen waren so buchstäblich wie die Dünste direkt. Am Einlass wurden Gasmasken ausgegeben. Das Provokanteste an Sierras Aktion lag aber darin, dass er sich im Vorfeld mit niemandem ins Benehmen setzte: Er machte einfach bzw. ließ machen, als sei es das Natürlichste von der jedenfalls deutschsprachigen Welt. Nun realisiert wieder einer das Allernatürlichste. Gregor Schneider, der Meister des freudianischen Impulses – und das nicht nur im Kurzschluss von heimelig und unheimlich -, hat für dieses Jahr Hand angelegt. Die Synagoge ist kein Labyrinth geworden, Klaustrophobie, die zu erwarten war, stellt sich nicht ein, aber womöglich ist die Beklemmung nicht geringer. Er hat das Gotteshaus als Einfamilienhaus verkleidet, mit einer Fassade aus dem Baumarkt, gelb getüncht, dazu Plastikfenster und eben solche Tür, ein Klingelschild mit Namen „Schneider“ daneben, ein Briefkasten, insgesamt ein Heim vom sozusagen Feinsten. Einzig der Rundbogengiebel, Dokument einer Historie, die bis ins 14. Jahrhundert zurückgeht, ließ sich nicht ungeschehen machen Neben Rewe und der Kreissparkasse geht es von Stommelns zentralem Platz aus einige Meter nach hinten, ein Anwesen in zweiter Reihe, und immerhin hat es jetzt auch eine von Schneider verpasste, aber allgemein akzeptierte Adresse: Hauptstraße 85a. Das aufdringliche Gelb schlägt weit über die Normalität hinaus, Stommeln ist ein hübscher Ort in rheinisch-niederländischer Backsteinmanier. Schneider hat also eine Rigidität eingeführt, die den kunstbetriebsüblichen Mechanismus, sich über den schlechten Geschmack und den unterschwelligen Nazismus der andern zu mokieren, blockiert. Schneiders Arbeit kann Tag und Nacht besichtigt werden, es gibt kein Innen zum Außen, und der Ort dieser Kunst ist auf das Offensichtlichste der öffentliche Raum. Konsequent aber verweigert sie sich dem Ensemble-Gedanken, zwischen Umgebung und Werk findet keine erpresste Versöhnung statt, und künstlerischer Text und sozialer Kontext bleiben sich durchaus fremd: Alle Hinweise auf den Präsentationsort sind abmontiert. Schneider hat, so sieht es aus, realisiert, was er immer schon einmal realisieren wollte. Ganz freudianisch. Gerade in dieser Ego-Manie hat er ein herausragendes Stück Gegenwartskunst nach Stommeln gestellt.
Mehr Texte von Rainer Metzger

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