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Schaulager

In den meisten Museen der Welt ist heute nur mehr ein Bruchteil der hauseigenen Sammlungen sichtbar ausgestellt. Der Rest des Bestands – oft 99 % – ist magaziniert. Seinen Grund hat das einerseits in den permanent und mitunter rasant wachsenden Sammlungsbeständen, die jeden noch so großen Ausstellungsraum schnell an seine Grenzen bringen, andererseits im gängigen Ausstellungsideal, das stark auf Vereinzelung setzt. Um dem einzelnen Werk / Objekt einen würdigen Auftritt zu geben, wurden die noch vor hundert Jahren üppig angefüllten Museumsräumen sukzessive leer geräumt. Ab den 1920er Jahren begann sich bei Bildwerken die Linienhängung durchzusetzen, später wurde auch diese immer luftiger. Auslese und Bereinigung wurden modern. (1) Während es früher üblich war, dass Museumswände neben- und übereinander dicht an dicht mit Exponaten bestückt waren, breitet sich heute als Gegenteil das Vakuum aus. Weniger „wichtige“ Werke wurden in die Unsichtbarkeit gedrängt – von den notwendigen Auf- und Abbautätigkeiten in einer Sammlung, dem Restaurierungsbetrieb, der Lagerung, den Verpackungsmaterialien und den Transporten ganz zu schweigen. Tatsächlich wurden das Wesen und die Logistik einer Sammlung noch nie so verleugnet wie in den Standard-Schauräumen der Gegenwart. Im 16. und 17. Jahrhundert hingegen gab es beispielsweise überhaupt keine Unterscheidung zwischen Depot- und Ausstellungsräumen. Alte Stiche und Bilder zeigen uns voll geräumte Studienräume, in denen die Exponate in speziell gefertigten Depotmöbeln und Archivschränken untergebracht sind, anderes hängt an den Wänden und von der Decke oder lagert auf dem Boden. Dazwischen stehen Tische und Stühle zum Betrachten und Studieren der Dinge. Doch seit einiger Zeit gehen die Institutionen in der Sammlungspräsentation wieder neue, respektive alte Wege: Sie inszenieren nämlich innerhalb der öffentlichen Museums immer öfters Depotbereiche als „Schaulager“. Da es derzeit mancherorts bezüglich der entsprechenden Idee bereits Copyright-Diskussionen gibt, führe ich einige international wegweisende Realisierungen mit Jahreszahl an: Das Schaudepot des Museum of Anthropology in Vancouver (MOA/UBC) stammt aus dem Jahr 1976, jenes der Pinacoteca di Brera in Mailand von 1984, jenes des Jüdischen Museums der Stadt Wien von 1996, das „Schaulager“ in Basel wurde 2003 eröffnet, das Musée du quai Branly in Paris mit seinem Schaudepot für die Musikinstrumentensammlung stammt von 2006, das Mittelalter-Schaudepot des Wiener Belvedere von 2007. Bei vielen dieser Schaudepots resultiert das Display aus der wohlüberlegten Weigerung, aus der schieren Vielzahl eine notwendigerweise wertende Auswahl zu treffen – dass mit dem MOA/UBC auch hier ein „Völkerkundemuseum“ zu den Pionieren zählt, sei noch zu meiner letzten Causerie angemerkt.(2) Manche dieser Depots residieren in industriellen Hallen oder Bunkern und präsentieren ihre Sammlungsgegenstände tatsächlich als Lagerbestand. Manchmal sollen Werke einfach ohne größeren Aufwand wie Bewachung, Vermittlungsprogrammen oder wechselnden Sonderausstellungen zugänglich gemacht werden. Immer öfter werden Schaudepots aber auch prominent, gleichsam als Ursprung oder Energiequelle eines Hauses, gesondert inszeniert. Diese Art des Schaudepots ist mittlerweile schon so üblich geworden, dass es mit zum, wie ich es nenne „musealen Cluster“ gezählt werden kann, also zu jener dichten Packung an spezialisierten öffentlichen Räumen (Foyer, Garderobe, Café, Museumsshop, Bibliothek, Veranstaltungsraum, Räume für Wechselausstellungen, Kino usw.), aus denen sich heutige Museen zusammensetzen. -- (1) Als Erfinder der Linienhängung gilt Alexander Dorner. Orientiert an der „Schaffung eines einheitlichen entwicklungsgeschichtlichen Ganzen“ führte er als Kustos am Provinzialmuseum in Hannover von 1922 bis 1926 eine international vielbeachtete Neuhängung durch. In den 30er Jahren betrieb Dorner dann aus der gleichen Logik heraus die Bereinigung der Sammlung von als jüdisch bzw. als entartet diffamierten Gemälden. (2) Siehe „Die produktive Krise der Völkerkundemuseen“, artmagazine 17.06.2013
Mehr Texte von Vitus Weh

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