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La Galerie du Temps: Museale Askese

Milchig-weiß und rein, ja immateriell, wie nicht von dieser Welt erscheinen einem die Wände des Museums, nähert man sich ihm über den es umspielenden Landschaftspark – ein selbst im Winter zart grünendes Archipel in der schwarzbraunen, einst vom Bergbau dominierten Umgebung im Zentrum des nordfranzösischen Kohlebassins. Seit in den 1980er-Jahren die Kumpel zur letzten Schicht ausrückten, kämpft die verarmte Kleinstadt Lens mit einer der höchsten Arbeitslosenraten im Land. Zudem möchte sie sich vom Image befreien, nur ein Ort für den Fußball zu sein, mit Frittenbuden rundum (in den Dreißiger Jahren hatte man nach einem Arbeiteraufstand ein gewaltiges Stadion errichtet). Der Wunsch nimmermüder Regionalpolitiker nach einem kulturellen Katalysator, wie etwa im Ruhrgebiet oder im Baskenland, traf sich mit dem Bestreben des Kultusministers unter Jacques Chirac, wonach auch Provinzstädte ihr Teil an den wichtigsten Nationalmuseen haben sollten. Anders als die Filiale des Centre Pompidou im bourgeoisen Metz, dass sich ebenfalls dieser Politik der Dezentralisierung verdankt und mit rhetorischem Architekturspektakel trumpft, wirkt der neu gebaute Flügel des Louvre in Lens so diskret und bescheiden, als wolle er sich in Nichts auflösen, verschwinden. Freilich war im Vorfeld die Versuchung groß, über eine deklamatorische Form einen Bilbao-Effekt in Gang zu bringen. Letztlich entschied man sich glücklicherweise aber doch gegen bombastische Entwürfe von Zaha Hadid und anderen, zugunsten des Minimalismus des damals (2004) noch kaum bekannten japanischen Büros SANAA. Mittlerweile jedoch wurden die Architektin Kazuyo Sejima und ihr Partner Ryüe Nishizawa für ihren subtil-puristischen Ansatz mit dem Pritzker-Preis nobilitiert (2010), und der Louvre Lens gilt bereits jetzt als exzeptioneller Museumsbau weltweit. Wie zu einem langen weißen Band mit einem mittigen Quadrat reihen sich die vier langgezogenen, flachen Bauglieder aneinander und fügen sich in ihrer moderaten Höhe ins Gesamtbild der von Backsteinhäusern dominierten Stadt. Und fast werden die glatten, matt reflektierenden Fassaden eins mit dem hierorts meist grau verhangenen Regenhimmel. Hinter dieser Schlichtheit jedoch ist alles auf die Essenz des Raumes konzentriert: Kaum in die gänzlich gläserne Eingangshalle getreten, geht der Blick gleich wieder nach draußen, in den zwanzig Hektar großen Park der „Paysagistin“ Catherine Mosbach, der sensibel die Spuren berücksichtigt, die die stillgelegte Zeche hinterlassen hat; im Sinne einer Industriearchäologie wurden etwa die alten Gleiswege teils beibehalten. So, als setzte sich der Spaziergang durchs Grüne im Innern fort, soll die Schwellenangst vor dem Hochkulturellen schwinden. Die ovalen Einbauten im Entree sind locker verteilt und beherbergen eine Mediathek, den Bookshop sowie Bänke zum Laben. Dieser Bereich ist auch ohne Billet allgemein zugänglich – was die Aufgabe eines Museums als öffentlichen Ort signalisiert und wohl bei nicht wenigen weiteres Interesse weckt. So kann man etwa auch im Untergeschoß den RestauratorInnen bei Ihrer Arbeit zusehen. Ähnlich wie im 2012 eröffneten Rolex Learning Center am ETH-Campus in Lausanne, wo es weder Wände noch Treppen gibt, sondern leicht ansteigende Rampen Lesebereich, Caféteria und Vortragssaal voneinander separieren, lenkte das Architektenduo den Raumfluss über seine kommunikative Funktion. Denn ganz bewusst richtet sich der Bau auch an jenes Publikum, das normalerweise nicht ins Museum geht; bislang verfügte Lens über keine einzige Kunstinstitution. Das bei aller Nüchternheit spektakulärste Kompartiment bildet die Galerie du temps, die die permanente Sammlung zur Geltung bringt – und dies über eine gewagte Szenografie: Während die Wände aus Inox auch im Inneren diffus und bilderlos schimmern, hängen Gemälde ausschließlich auf großzügig im Raum verteilten weißen Stelen, von Skulpturen auf Sockeln und Podesten skandiert. Die 120 Meter lange Halle fällt leicht ab, wodurch man zu Beginn die gesamte Aufstellung überblickt, eine Auswahl aus sechs Jahrtausenden Menschheits- und Kulturgeschichte von der Antike bis in die 1850er-Jahre. Im Herantreten an die einzelnen Werke, beim individuellen Flanieren durch das sophistizierte Display jedoch verliert sich diese Metasicht. Frei zwischen den 205 Exponaten flottierend bieten sich mehr und mehr visuelle Brücken zwischen den vorerst so disparaten Werken, kristallisieren sich Gruppen heraus, Wahlverwandtschaften, Familien. Dieses kühne Konzept fördert die formalistische Betrachtung, die komparative Stilanalyse, das vergleichende Sehen, worauf Heinrich Wölfflin und Alois Riegl sich methodisch stützten. Und freilich lehnt es sich an die Showrooms und Flagship Stores hochpreisiger Modemarken an, die über die zurückgenommene Präsentation von Einzelstücken deren jeweiligen „Bügelsex“ inszenieren. In der Tat sind nicht wenige Meisterwerke aus dem Louvre vertreten, und die hohe Qualität der Beschickung soll auch weiterhin bestehen, um nicht halbherzig zu wirken, sondern erneute Besuche anzuregen. Fünf Jahre lang wird die je aktuelle Aufstellung zu sehen sein, wobei sich über den Austausch eines Fünftels pro Jahr das Ensemble stetig neu konfiguriert. Als „Laboratorium für den Louvre“ betrachtet der Direktor des Pariser Hauses den Flügel in Lens, frei von den Beschränkungen im staatstragenden Palais. Denn die dortigen Departements bilden in sich geschlossene Entitäten, für die gänzlich undenkbar ist, die enzyklopädische Ordnung, das Klassifizierungssystem nach Perioden, nationalen Schulen und Techniken durcheinanderzubringen – wiewohl zeitlich oder geografisch verwandte Werke teils nur wenige Gänge oder Stiegen voneinander getrennt ausgestellt sind. Eben solche Begegnungen erlaubt der Schritt hinaus in die Provinz, in die auf Offenheit und Durchlässigkeit hin konzipierte Raumfolge in Lens, in der zudem nicht Überfülle noch Pomp und Plüsch ablenken vom Kunstobjekt an sich. Den BesucherInnen wird viel zugetraut, indem sie innerhalb dieser musealen Exerzitie auf ihre Intention vertrauen müssen. Der selbst entdeckten Bezüge aber erinnert man sich noch lange danach. Und manchem Werk erlaubt die weiträumige Dependance überhaupt erst, ausgestellt zu werden. Wie die gigantische Triumphpforte von Albrecht Dürer in der Sonderausstellung zur Renaissance (bis 31. März 2013), einer knapp dreieinhalb Meter hohen, fantastischen Assemblage aus knapp 200 Holzschnitten, für die der Plafond in Paris zu nieder ist. Dass Delacroix’ Revolutionsbild „Die Freiheit führt das Volk“ das Wandeln durch die Galerie der Zeit beschließt, darf als programmatisch gelten, als kräftiges Signal dafür, dass die innerhalb Frankreichs weitgehend vergessene Stadt von ihrer kulturellen Rehabilitation profitiert. Für die Finanzierung – 150 Millionen Euro an Errichtungs- und weitere 15 Millionen Betriebskosten pro Jahr – kommt nämlich fast zur Gänze die krisengebeutelte Kommune auf. 700.000 BesucherInnen jährlich sollen sich in Lens einfinden; die Stadt bereitet sich auf einen enormen Ansturm vor und fürchtet eine Knappheit an Betten. Die großräumige Erneuerung der Infrastruktur steht als Herausforderung nämlich noch an, umso mehr auch, als im Sommer 2012 das Ensemble der Zechensiedlungen vor Ort von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden ist. Um kritischen und skeptischen Einwänden gegenüber dem Museumsprojekt in Zeiten der Krise den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird Vermittlungsarbeit von der Equipe des Louvre Lens groß geschrieben. Seit dem Baubeschluss 2004 schickte man alle SchülerInnen der Primarstufe auf Klassenfahrt nach Paris, wie der Bürgermeister nicht ohne Stolz berichtet. KonservatorInnen des Louvre hielten zusätzlich Vortragsreihen in den Schulen vor Ort, und seit drei Jahren führt ein museumspädagogisches Team die EinwohnerInnen an die Museumsidee heran, zuletzt sogar offensiv hausierend. Und nicht zuletzt ist die Preispolitik moderat gestaltet. Ob all dies die ehemalige Arbeiterschaft tatsächlich kunstaffin werden lässt? Man wird sehen. Die Inauguration des Louvre Lens durch Staatspräsident Hollande jedenfalls war am 4. Dezember, dem Tag der Heiligen Barbara als Schutzpatronin der Bergleute angesetzt. Seit 12. Dezember ist das Museum für das Publikum geöffnet: es lohnt, sich in dieses Fast-Nichts zu begeben.
Mehr Texte von Ulrike Matzer

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La Galerie du Temps
12.12.2012 - 21.10.2013

Louvre Lens
62301 Lens, rue Paul Bert
Tel: +33 (0)3 21 18 62 62, Fax: +33 (0)3 21 18 62 65
http://www.louvrelens.fr
Öffnungszeiten: Mi-Mo 10-18 h


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