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Lesung aus der Legenda aurea

Wiederholt schon hörte man den Vorwurf, auf der diesjährigen documenta, manifesta usw. seien vornehmlich Werke UNBEKANNTER KünstlerInnen ausgestellt. Mit denen könne man ja nichts anfangen! In der Augustausgabe der Kunstzeitung hat Robert Fleck dies sogar als einen Grabenkampf in der Kuratorenwelt („Kalter Krieg im Kunstbetrieb“) beschrieben und sich zugleich als treuherzigen Anwalt „der Künstler, von deren Werk man überzeugt ist“ stilisiert. Nun entbehrt es nicht einiger Komik, dass der gleiche Kunstzeitungsautor jüngst seinen Direktorenposten bei der Bonner Bundeskunsthalle gerade deshalb verlustig ging, weil er sich nicht ausschließlich für das Werk eines Künstlers (Anselm Kiefer) sondern zugleich für die kapitalistischen Machenschaften eines Sammlers einsetze, aber ich möchte seine Argumentation hier dennoch ernst nehmen, weil sie einige Entwicklungen der letzten Jahre pointiert formuliert und daraus einen sehr typischen Schluss zieht. Zunächst ein längeres Zitat aus dem Text: „Auf der einen Seite finden sich der Kunstmarkt und die großen Museums- und Ausstellungsinstitutionen, die – zumindest außerhalb Europas – derzeit eine gründerzeitliche Situation erleben. Davon scharf abgegrenzt hat sich eine zweite Kunstszene gebildet. Sie wird überwiegend von den freien Kuratoren getragen. In den neunziger Jahren erweiterten sie das Berufsfeld der ersten »Ausstellungsmacher« der siebziger Jahre. Mittlerweile beherrscht die Kuratoren-Zunft fast alle der weltweit mehr als 150 Biennalen. Diese beiden Welten kommunizieren so gut wie gar nicht mehr miteinander. Vielmehr stehen sie sich, grrr, unversöhnlich gegenüber [...]. Die Fraktion der Kuratoren betrachtet sich als das »gute« Lager, als Gegenpol zur »korrumpierten« Welt der Museen und des Kunstmarkts. Dort wiederum sind die Kuratoren als kopflastige Sekte verrufen. Sie haben – gleichsam als Antithese zum Pragmatismus des Marktes und der Museen – ein komplexes, weit verzweigtes und sehr aktiv betriebenes Theoriegerüst ausgebildet. Eine zentrale Rolle spielt dabei die These von der politischen und sozialen Funktionalität der Kunst. Eklatant zum Ausdruck kommt dies in etlichen europäischen Großausstellungen dieses Jahres, von der Berlin Biennale über die Triennale von Paris bis zur documenta 13. Diese beiden Welten der Gegenwartskunst führen nicht nur eine Art Kalten Krieg, sondern auch völlig unterschiedliche Künstlerlisten. Die bekannten Artisten sind bei den Museen und dem Markt angesiedelt, während die sogenannten Biennale-Künstler für den Kunstmarkt mehrheitlich unerheblich sind. Das weitgehende Fehlen prominenter Künstler bei der diesjährigen documenta in Kassel ist dafür bezeichnend – und ein Paradox bei einer Ausstellung, die 1955 in erster Linie gegründet wurde, um regelmäßig die wichtigsten Künstler der Epoche zu präsentieren. Zudem haben die Kuratoren-Biennalen der letzten Jahre immer wieder ganz neue Teilnehmerlisten ausgeheckt, wodurch viele jüngere Künstler in diesen Ausstellungen verheizt wurden, ohne sich wirklich durchsetzen zu können.“ Soweit das Zitat. Abgesehen davon, dass es absurd ist, zu behaupten, dass „Künstler in Ausstellungen verheizt wurden“, ist Flecks Beschreibung der zwei Kunstwelten – hier Museen und Kunstmarkt, dort Biennalen und Kunsttheorie – durchaus zutreffend. Doch welcher Schluss ist daraus zu ziehen? Für Fleck ist klar: „Wir müssen die Künstler, ihre Arbeit, deren innere Ökonomie und deren Tragweite wieder in den Mittelpunkt stellen“ und meint damit die prominenten Künstler, oder jene, die es in seinen Augen verdienen, prominent zu werden. Er steht damit in der langen Tradition jener, die „Kunstgeschichte“ mit „Künstlergeschichte“ in eins setzen. Als ihr Stammvater gilt Giorgio Vasari. Nachdem dieser in seinem Buch Le Vite de' più eccellenti pittori scultori ed architettori (erschienen 1550) über 100 Künstlerbiografien der italienischen Renaissance zusammengetragen hatte, galt und gilt es bis heute vielen als selbstverständlich, dass sich Kunst vor allem über die Lebensbeschreibungen von Kunst-ProduzentInnen erschlösse. Das ist jedoch keineswegs so. Ich zum Beispiel empfand meinen Besuch auf der aktuellen documenta gerade deshalb als besonders gewinnbringend, weil ich so wenige der ausstellenden KünstlerInnen kannte. Es schärfte so ungemein die Wahrnehmung. Nicht von weitem schon erkennen zu können, von welcher Künstlerpersönlichkeit dieses oder jenes Werk stammt, eröffnet tatsächlich oft erst die Chance auf eine intensive Begegnung. Erst dann kann man so grundlegend staunen wie jene normalen Besucher, die heute ohne großes Vorwissen so zahlreich die Museen und Großausstellungen besuchen. Für sie ist es völlig normal, dass sie die Produzenten der Werke nicht kennen. Ihnen ist alles unerwartet. Ihnen stehen die jeweiligen Werke ohnehin ohne den Schatten einer Biografie oder eines „Kontextes“ in einem hellen Licht. Könnte es nicht sein, dass genau diese publikumsbezogene Offenheit für unerwartete Begegnungen die politische und soziale Absicht jener „Kuratoren-Zunft“ ist, die Fleck in seinem Text kritisiert? Nun stimmt es natürlich, dass manches Kunstwerk durch biografisches Wissen an Tiefe gewinnt. Und wen ein Werk zu interessieren beginnt, der möchte einen weiterführenden inhaltlichen Text nicht missen. „Kunst“ ist schließlich eine Sache der Zuschreibung. Ebenso wenig macht es daher Sinn, die Eigenheiten der Museen gegen jene der Biennalen ausspielen: Beide Systeme haben ihre Vorzüge und Schwächen und zusammen ergänzen sie sich. Warum also sollte man sich zwischen beiden entscheiden müssen? Die Haltung, die Fleck empfiehlt – „ dass die Kunst und die Künstler absolute Priorität genießen müssten“ – ist, bewusst oder unbewusst, tatsächlich religiös fundiert. Und in unübersichtlichen Zeiten ist sie leider auch typisch. Selbst hier auf artmagazine.cc habe ich ähnlichen Pathos schon gelesen. Kunstgeschichte wird dabei zur Legenda aurea. Wie einst die Heroen und Märtyrer erhebt man die „bekannten Artisten“ sogleich „zur Ehre der Altäre“. Dabei ist es durchaus wahrscheinlich, dass sich Vasari bei seinen Lebensbeschreibungen von Künstlern in der Tat an den Heiligenlegenden der Legenda aurea orientierte (die Sammlung der Legenda aurea entstand im 13. Jahrhundert und war das religiöse Volksbuch des Mittelalters), aber müssen wir auch heute noch diesem Muster folgen? Bei welcher göttlichen Autorität sollten diese Künstler-Heilige denn unsere Fürsprecher sein? Und um was genau sollten sie dort für uns bitten? Macht es also wirklich Sinn, die Listen der Kunstrankings als neue Heiligenkalender zu etablieren? Solch ein Kanon suggeriert vielleicht Überschaubarkeit, aber um welchen Preis? Da halte ich mich doch lieber an jene realen „Vorbilder“, die an der Wand hängen, in Vitrinen ruhen oder im Raum stehen. Diese greifbare Dingwelt hat für mich weitaus mehr Sinnlichkeit als alle vierzehn Nothelfer / Topkünstler zusammen. Da komme ich – trotz meines Vornamens – mehr zu mir selbst.
Mehr Texte von Vitus Weh

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