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Faszinierendes Terrain der Wissensproduktion

Erwartungsgemäß großartig als vielschichtiger Ort der Wissensproduktion mit überraschenden, sinnlich fesselnden Präsentationen öffnet sich die Documenta 13 ihrem Publikum. Politisch klar, gesellschaftskritisch, aufklärerisch aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts und seiner nachfolgenden Jahre als Zeitalter der Extreme, des Kriegs und der Massenvernichtung her gedacht, konfrontiert sie gleich zu Beginn mit einem dichten Exposé an Fragestellungen. Als Leitmotiv die Aufforderung, Wahrnehmungsmodelle aus der Kunst der Moderne im Sinne einer Archäologie auch auf andere Bereiche auszudehnen, um neue Lesbarkeiten zu entwickeln. Hinzu kommen in dieser geographisch neuerlich ausgedehnten und selbst in einigen Tagen nicht vollständig erfassbaren Großausstellung inhaltliche Erweiterungen in denen – im Vergleich zu den bisherigen »Weltkunstausstellungen« – in verschiedenen Medien und Umsetzungsformen ökologische Aspekte bearbeitet werden. Traditionsgemäß ist das Fridericianum die zentrale vermittelnde Schaltstelle, von der aus die ersten Verbindungslinien gezogen werden. Documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev bezeichnet es als »The Brain«. Judith Barry hat dazu ein Art Miniaturbuch geschaffen, das verschlungen in die Ausstellung hinein, aber auch durch sie hindurch führt. Was könnte dann mehr aussagen über die Zerschlagung von Kultur durch die Fakten schaffende Gewalt des Kriegs als eine Auswahl von Artefakten aus dem Nationalmuseum von Beirut, die während des Bürgerkriegs 1975 bis 1990 im Zuge von Bombardements miteinander verschmolzen? Deformierte Fundstücke aufgeladen mit neuen Bedeutungsschichten. In unmittelbarer Nähe das bereits auf der Biennale von Venedig gezeigte Video von Ahmed Basiony, das die Aufstände am Tahir-Platz in Kairo aus dem Jänner 2011 zeigt. Drei Tage nach der Aufnahme, am 28. Jänner 2011, wurde Basiony am Tahir-Platz von der ägyptischen Polizei erschossen. Es zeigt sich bald, dass es nicht die stets schwierige – weil ideologisch beladene – Erneuerung von Kunstbegriffen geht, sondern um die Hereinnahme von Repräsentationsformen, die aus der Sicht der Kunst interpretiert werden können – aber nicht müssen. Oft ist es die Konfrontation mit einer Dramaturgie der Direktheit und Härte. Zugleich ein enormer Grad an Formalisierung. Zu Beginn wird einem im Fridericianum das Gehirn frei geräumt. Die langgestreckten Säle im Erdgeschoß sind fast leer. Weißes Neonlicht. Kühler Wind. Nicht weil in Kassel der Juni so kalt ist. Es ist das Werk von Ryan Gander, der einen Lufthauch durch die Räume wehen lässt. Dann doch eine Vitrine. Mit einem Brief von Kai Althoff, der die Einladung zur Documenta nicht annehmen kann. Nun ist er doch präsent. Wenn dann noch aus einem winzigen Raum das »Falling in Love« als Endlosschleife aus dem Country-Klassiker »Till I Get it Right« von Tammy Wynette erklingt, bleibt dennoch offen, ob zumindest hier ein wenig Hoffnung evoziert werden soll. Die Sound-Installation von Ceal Floyer erinnert eben auch an das tragische Leben der Pop-Sängerin zwischen Alkohol- und Eheproblemen. Solche Kontraste und Gegenüberstellungen wirken durchwegs plausibel und schaffen Spannung durch den Wechsel des Standpunkts, der vom Publikum eingefordert wird. Evident ist die Einladung auf eine Erkundungsreise, deren Routen kaum einmal den Charakter rigider kuratorischer Thesen annehmen. Dass Documenta Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev – und ihr Team – sich lieber vom Pluralismus in der aktuellen künstlerischen Produktion leiten lassen, wurde bereits auf der Pressekonferenz in der zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbauten – einem Theater ähnlichen – Stadthalle Kassel demonstriert. Nicht mit einer großen Rede begann sie, sondern fast unmerklich mit einer Nägel-Beiß-Performance von Ceal Floyer vor eingeschaltetem Mikro. What to say? Es ist keine Attitüde von Carolyn Christov-Bakargiev, wenn sie sagt, sie habe kein Konzept. Wem wäre gerade jetzt bei der Behauptung zu trauen, er oder sie hätte eines? Christov-Bakargiev deklariert ihre Haltung durchaus. Ausstellungen und Projekte gestaltet sie aus einer Position der Skepsis, wobei sie in diese Documenta 13 selbstverständlich feministische und transgender-Diskurse einbezieht. Sie kuratiert die Documenta vor dem Hintergrund vollzogener Prozesse der Dekolonisation, die wiederum von Globalisierung und der zunehmenden Ökonomisierung ökologischer Ressourcen überlagert sind. Auch wenn die Verhältnisse im Spätkapitalismus ins Stocken geraten, in der Kunst schreiben wir 2012. Vor dem Hintergrund von Krieg und Massenvernichtung Somit ein paar Fakten: Über 50 Ausstellungsorte erstreckt sich die Documenta 13, davon etwa 20 Präsentationen in Gartenhäuschen in der Karlsaue-Parklandschaft, was einen Rückbezug auf Arnold Bodes erste Documenta darstellt, die 1955 aus einer Gartenschau heraus zur Rekonstituierung der Moderne gegründet worden ist. Lieblich ist die Inszenierung auch dort nicht. Eine von weitem wie ein riesig dimensioniertes Spielobjekt aussehende Holzkonstruktion von Sam Durant besteht aus mehreren ineinander verschachtelten Galgen und ist als scharfe Kritik an der Todesstrafe insbesondere in der amerikanischen Geschichte und heute allgemein konzipiert. Doch weiter: Von den rund 300 KünstlerInnenpositionen sind etwa 40% Frauen. Ein enormer Anteil der Werke wurde von der Documenta oder extra für diese produziert. Zur Auseinandersetzung mit dem lokalen Kontext wurden die KünstlerInnen, aufgefordert, auch das ehemalige Benediktinerkloster Breitenau zu besichtigen, in dessen gefängnisähnliches Arbeitshaus ab 1874 Prostituierte und Landstreicher gesperrt wurden, bevor es im Nationalsozialismus als Internierungsort für Regimegegner und Juden diente, die dann ins KZ deportiert wurden. Danach wurden dort Geschlechtskranke eingesperrt und wieder danach sogenannte schwer erziehbare Mädchen. Die einem Straflager ähnlichen Bedingungen verarbeitete Ulrike Meinhof 1970 im Fernsehspiel »Bambule«. Auf der Documenta ist dazu von Clemens von Wedemeyer ist eine umgehbare 3-Kanal Filminstallation im Hauptbahnhof zu sehen. Im Kloster selbst konzipierte Judith Hopf eine fragile Installation aus übereinandergestellten hohen Trinkgläsern mit Papier dazwischen, die dazu auffordert, acht zu geben und den Körper zu bewegen. Emanzipation und Geschichte beginnen, wo die Körper sensibel werden. Und somit zurück ins Fridericianum: Judith Hopf verlinkt »The Brain« mit ihrer Intervention in Breitenau. Der Strategie des situationistischen Détournement folgend stellt Hopf hier Masken aus, die Ergebnis eines Projekts der Insasseninnen von Breitenau sein könnten. Grundstoff der bizarren Science-Fiction Gebilde sind Verpackungen von PC’s, Smartphones oder Tablet-Computern als Verweis auf die gegenwärtige Ökonomie der Disziplinierung. Zurück zu den Facts: Ein Thema, das sich in vielen Facetten durch die Docucmenta 13 zieht ist »Afghanistan«. Eine der Außenstellen liegt in Bagh-e Babur (Queens Palace) in Kabul. Weil Afghanistan zumeist nur als Kriegsgebiet im Bewusstsein verankert ist und – des weiteren – Deutschland Truppen dorthin schickte, wie Carolyn Christov-Bakargiev erklärt. Das wirkt logisch: Besser die Konzentration auf ausgewählte Gebiete und lokale Kontexte (auch Kairo und die nordafrikanischen Gebiete sind solche), als scheinbar weltweit zu agieren und zu recherchieren. Trotzdem sind dann auch Positionen aus Palästina, Vietnam, Australien, Neuseeland und Thailand vertreten. Also Afghanistan: Äußerst beeindruckend die Großbild-Doppelprojektion der in New York lebenden, aus Kabul stammenden Mariam Ghani. Begleitet von einem sehr dichten reflektierenden Text untersucht sie vergleichend die Bedeutung der Architektur des Fridericianums in Kassel und des in den 1920er Jahren erbauten und heute zerstörten Regierungspalastes Darul Aman nahe Kabul. In Kassel ein weltlicher Tempel der Aufklärung und bei Kabul eine Ruine, die – erbaut unter König Amanullah Khan – ursprünglich Zeichen für eine moderne Staatsreform war. Hier geht es um Narrative der Modernisierung, der Bildung und der Archivierung von Wissen, das für Bevölkerung zugänglich gemacht werden soll, aber auch um bis heute weiter bestehender Ideologeme, die etwa in den Märchen der Brüder Grimm transportiert werden; nicht zuletzt um Sprache und die Grammatik von Architekturen. Mindestens fünf Mal könnte man sich alleine diese spannende Produktion ansehen. Eine weitere Verbindungslinie Richtung Afghanistan wird über die Figur des 1994 verstorbenen Alighiero Boetti gezogen, der das Land 1971 erstmals bereiste, dort viele seiner mit Weltkarten bestickten Teppicharbeiten anfertigen ließ und in Kabul das von ihm zeitweilig bewohnte »One Hotel« eröffnete. Dazu hatte ein Film von Mario Garcia Torres Premiere. Als Replik auf Harald Szeemanns Documenta 5 ist Boettis »Mappa«, 1971, in Verbindung mit einem Briefwechsel ausgestellt. Szemann hatte die Arbeit für seine Documenta vorgesehen, nur konnte es damals nicht rechtzeitig geliefert werden und war nur im Katalog abgebildet. Carolyn Christov-Bakargiev leistet sich den Luxus, auch auf historische Werke aufmerksam zu machen und zeigt George Morandi, Antoni Cumella oder sogar Salvador Dalí. Von letzterem ein Gemälde, in dem er seine Herausarbeitungen des Paranoiden, Gespenstischen auf die Darstellung des Spanischen Bürgerkriegs und die faschistische Mobilmachung anwendete. Hinweise auf künstlerische Entwicklungen ebenso wie auf die Unmöglichkeit, sich von der Geschichte zu lösen. Auch wenn man den Raum mit Werken der in Ausschwitz ermordeten Charlotte Salomon betritt. Zwar ist ihre von Selbstmorden in der Familie und sexuellem Missbrauch geprägte Geschichte bekannt. Als gemaltes, geschriebenes, vielteiliges Kunstwerk im Medium der Autobiografie macht diese Präsentation trotzdem Sinn. Selbst wenn die Documenta einmal mit dem Anspruch antrat, nur das Allerneueste zu zeigen. Pendel zwischen Quantenphysik und Surrealismus Trotzdem: Es franst nichts aus. Die Documenta verlangt von ihrem Publikum lediglich Beweglichkeit. Bezugssysteme und Leseebenen wechseln. Warum also nicht das Thema Tagebuch weiterführen? In einem großen Raum macht Ida Applebroog ihre intimen Notizen, Skizzen und an Storyboards orientierten Zeichnungen öffentlich. Die 82-jährige Künstlerin beginnt sich von Ihnen zu trennen. Geistig. »Ein Experiment, in meinem Alter hält man nicht mehr an allem fest«, erklärt sie. Dieses Prinzip treibt sie auf die Spitze, indem sie ihre Tagebücher als vergrößerte Faksimilie-Drucke zum Mitnehmen freigibt. Auf Paletten liegen sie auf. »take one for free«. Auf dem Documenta Gelände gehen – während der erste Tage – fünf Reklameträger mit Klapp-Schildern am Körper herum, auf denen ebenfalls einige Applebroog-Notate zu lesen sind. »Afterwards I masturbate«. Oder so ähnlich. Ja, zwischendurch auch Vergnügen. Der fast 80-jährige Llyn Foulkes bespielt in den ersten Documenta Wochen auch ein von im gebautes und ausgestelltes Musikinstrument »The Machine«: Schlagzeug, mit einem Riesenensemble an Hupen, Becken, Kuhglocken, Basssaiten und sonstigem drum und dran. Seine Freude sei die Musik, sagt er, Malerei die Qual, weil genaue Arbeit. Seine Malereien, in die er gefundene Objekte, wie Polster, Haare oder Kleidungsstücke einarbeitet, erzählen vom Ende des amerikanischen Traums. »The Lost Frontier« – entstanden 1997–2005 – zeigt eine apokalyptische Berglandschaft. Dazu verwendete er auch eingearbeitete Hölzer als Bildträger. Selbstverständlich scheinen auch hier die gesellschaftlichen Hintergründe einer Welt durch, die Abenteuer suggeriert und zugleich auf dem Genozid aufbaut. Zugleich appellieren die meisten der Werke dieser Documenta an das Gefühl, in dem sie zur Auseinandersetzung mit deren formaler Sprache auffordern. Von Ästhetisierung zu sprechen wäre dennoch falsch. Vielmehr handelt es sich um unterschiedliche Prozesse der Formfindung. Oder: um die Präsentation vorgefundener Formen, wie im Werk des Franzosen Kader Attia »The Repair«, das auf Recherchen in Algerien und im Kongo basiert. Eine raumgreifende Sammlung beschädigter afrikanischer Skulpturen, die mit von den Kolonialmächten eingeführten Materialien wie Knöpfen oder Spiegelscherben repariert wurden. Dazu bringt er verstörende Analogien mit Fotos von invaliden Soldaten, die nach dem ersten Weltkrieg plastischen Operationen unterzogen wurden. Hinzu kommen medizinische Abgüsse von Gliedmaßen. Bizarre Szenarien, die fundamentale Fragen, um Deformation und Vernichtung von Körpern und von Kultur aufwerfen. Aus der Ferne kaum vorstellbar, dass im Herzen des gleichen Ausstellungsgebäudes auch noch eine umfassende Präsentation einiger signifikanter Experimente und Forschungsergebnisse des Quantenphysikers Anton Zeilinger Platz findet. Sie besteht aus Tafeln mit handgeschriebenen Rechnungen und einigen Tischen mit technischen Geräten und Bildschirmen. Nachvollziehen lässt sich der enorme Sprung erst, sobald man sich vergegenwärtigt, dass sich beispielsweise auch Salvador Dalí für Quantenphysik interessierte oder, dass es hier um Verfahren der mathematischen Abstraktion geht, die auf vollkommen andere Weise der in der Nähe gezeigte Marc Lombardi anwendete, wenn er nach peniblen Recherchen die Strukturen global ausgeweiteter Machtsysteme in Politik und Ökonomie in gezeichnete Organigramme übertrug. Die Frage, ob das Kunst sei, was Anton Zeilinger betreibt, scheint falsch gestellt. Doch sobald an Kunstuniversitäten die »Visualisierung von Wissenschaft« gelehrt wird, und sobald seit da Vinci ein Diskurs rund um Kunst und (Natur-)Wissenschaft geführt wird, ist es doch interessant, zu sehen, wie Wissenschaft tatsächlich aussehen kann. Dass auch hier Grenzen des Vorstellbaren berührt werden, wie oft in der Kunst möge ein weiteres Bindeglied sein. Grundsätzlich werden unterschiedliche Repräsentationsformen von Wirklichkeit kontrastiert, die dann in gewissen Schnittfeldern doch wieder aufeinandertreffen, sobald man sich genauer mit einzelnen KünstlerInnenbiografien beschäftigt. Für die außerordentliche Qualität, die Vielschichtigkeit und die Faszinationskraft dieser Documenta 13 spricht nicht zuletzt, dass sich nicht einmal die Ausstellung im Friedericianum erschöpfend rezensieren lässt. Es handelt sich um einen gewaltigen Erfahrungsraum, der daran erinnert, wie unabgeschlossen unsere Sicht auf die Kunst und somit auch auf die Welt bleiben muss. Dramatisch erinnert sie auch daran, wie unabgeschlossen und doppelgesichtig das Projekt Humanismus immer noch ist. Ach ja! Da war doch noch etwas. Erdbeeren!! Natürlich gibt es die auch. Als Teil eines der ökologisch orientierten Projekte an einem Stand in der Karlsaue. Auch die anderen fair produzierten Öko-Produkte schmecken gut und lassen einem das Herz aufgehen. -- dOCUMENTA (13) 9/6 - 16/9 2012 http://d13.documenta.de
Mehr Texte von Roland Schöny

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Ihre Meinung

2 Postings in diesem Forum
>was machst du im Sommer?< >documenta 13<
bitteichweisswas | 18.06.2012 05:56 | antworten
Schöny´ s gewohnt pointierte Rezession macht Lust auf mehr-
ups-
bitteichweisswas | 18.06.2012 05:57 | antworten
..."Rezension" nat.

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