Vitus Weh,
Du musst dein Leben ändern
In der letzten Causerie lieferte ich einige historische Begründungen für die öffentliche Förderung von Kunst, um am Schluss anzudeuten, dass heute eher die Anregung zur Nachahmung des Künstlerseins als gesellschaftlich förderungswürdig gelten kann, als Konservierung von und die Andacht vor Kunstwerken. Kurz gefasst schrieb ich: „Emanzipation, Selbstausdruck und Selbstverwirklichung will heute nicht nur jede/r betreiben, es herrscht diesbezüglich auch ein gesellschaftlicher Imperativ. Wenn sich nun aber jede/r „künstlergleich“ an der Verwirklichung eines höchsten individuellen Autonomieanspruchs versucht, dann könnte oder müsste solches Unterfangen auch im gleichen Maße öffentlich gefördert werden wie einst und bis heute die „Berufskünstler“.
Diesen Montag nun möchte ich diese Andeutungen gerne durch einige Überlegungen ergänzen, die meiner einzigen Sommerlektüre entstammen. Das Buch trägt den Titel „Du musst dein Leben ändern“, stammt von Peter Sloterdijk und erschien jüngst (2011) im Suhrkamp Verlag.
Sloterdijk versucht darin auf unterhaltsamen 700 Seiten eine Einordnung für jenen enormen Drang zu finden, der heute in quasi allen modernen Menschen zu spüren ist. Es ist eben jener Drang, Sloterdijk nennt ihn „Vertikalspannung“, zur Höher- und Weiterentwicklung, zur Hierarchisierung und zur Ausrichtung am Unmöglichen, der uns unter Differenzstress zwischen Sein und Werden-Können setzt und uns permanent zum künstlergleichen Selbstausdruck anhält. In Wahrheit lebt der Mensch ja nicht einfach, sondern er hat „ein Leben zu führen“. In früheren Kulturen lag das entsprechende Ideal – nach Sloterdijk – lange Zeit im Brahmanen-, Asketen- und Mönchstum, in der Hervorbringung von wahren Hungerkünstlern, von Meistern des Entsagens, der Entleibung und des Loslassens. Heute hingegen sind wir an der Meisterschaft in Potenzial-Verwirklichung orientiert. Da es in diesem Wettbewerb tatsächlich nicht um Ergebnisse oder Werke geht, sondern ursächlich um eine personale „Überforderung“, ist das Verfahren origineller Weise wahrlich demokratisch: jeder und jede ist gleich gefordert, sich zu überfordern. Alle sind damit auch Akrobaten, permanent übende Artisten, und was jeder einzelne braucht, ist kein Mitmensch oder Liebespartner, sondern einen „Trainer“, der uns so lange zur Übung und Orientierung an der Weiterentwicklung anleitet, bis wir seine Übungen internalisiert haben und folglich den Trainer / die Trainerin wechseln können.
Dem Kunstsystem kommt in diesem gesellschaftlichen Verfahren laut Sloterdijk eine doppelte Rolle zu. Einerseits lebt das imaginierte „Künstlersubjekt“ das neue Lebensführungs-Verfahren seit längerem schon exemplarisch vor – beharrlich sich mental und physisch überanstrengend und dem Scheitern bedrohlich nahe – und in den Museen hätte man mit den unzähligen Kunstwerken gleichsam einen akrobatischen Staatsschatz angehäuft. Aber wie das so ist mit Staats- oder Kirchenschätzen: Die Paletten mit Goldbarren oder die Reliquien der Heiligen sind vor allem psychologisch wichtig, sie bilden die imaginäre Mitte unserer Lebensführung, aber man schaut sie nicht eigentlich an.
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