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Voici un Dessin Suisse (1990-2010): Rahmensprengende Zeichnungen

Von einer sicher gesetzten Linie eingefasst, die Binnenzeichnung bestehend aus feinen Kringeln, die sich in ebenso geschwungener Form als gerollte Zunge aus seinem Maul herausbewegen, äugt es in Richtung Blattrand: ein Chamäleon, Teil einer Serie Zeichnungen von Olaf Breuning und ein veritables Sinnbild für die Ausstellung „Voici und dessin Suisse“, die vom Musée Jenisch in Vevey in der Schweiz konzipiert und nun in modifizierter Form im Aargauer Kunsthaus Aarau zu sehen ist. Was angesichts der Werke von über 40 in der Schweiz arbeitenden Kunstschaffenden aus den vergangenen zwanzig Jahren ins Auge sticht, ist die Wandelbarkeit der Zeichnung als eigenständiges künstlerisches Medium, das sich längst vom Mauerblümchendasein der Vor-Zeichnung verabschiedet hat und momentan eindeutig in Richtung Figuration tendiert: Gerade mal zwei Kunstschaffende, Damian Navarro und Karim Noureldin, zeigen rein abstrakte Motive, wobei letzterer auch das Design der Ausstellungsräume entworfen hat: Zart schimmernde silberne Streifen durchziehen die Wände von oben nach unten und verleihen der Ausstellung mit ihren so unterschiedlichen Exponaten einen einheitlichen An-Strich, womit, ausserdem auch auf die variantenreichen Möglichkeiten verwiesen wird, Papier als traditionellen Untergrund zu verlassen. Für sein Schaffen ganz untypische Wege beschreitet etwa der sonst im Bereich des Videos arbeitende Yves Netzhammer: Die durch eine Kordel an der Wand umrissene Kuh setzt sich in den Betrachterraum fort, wo die „Wandzeichnung“ plötzlich zu einer Abschrankung mutiert. Mit einem Augenzwinkern verweist diese auf die im White Cube des Museums herrschende Konvention, sich als Besucher der Kunst nicht zu sehr nähern zu dürfen, was vielleicht auch insofern besser ist, als die Kuh – welch urschweizerisches Vieh – die beiden traditionell gerahmten Blätter an der Wand verlassen hat, sich aber nicht nur aus der Kordel konstituiert, sondern von ihr gleichzeitig auch festgebunden wird. Diese „erweiterte Zeichnung“ verwische die Grenzen zwischen den Genres, so Catherine Pavlovic in ihrem Katalogessay; sie ergreife von der Wand Besitz und münde schliesslich in Installationen. Da die Betrachter sich vor solchen Werken bewegen müssen, um sie vollständig zu erfassen, werden Fragen nach dem Raum und der Zeit angesichts des Werks erfahrbar gemacht und tatsächlich erlebt. Ein besonders schönes Beispiel für diese Spielart stammt von Zilla Leutenegger. Ihre Verschränkung von Zeichnung, Video und Sound nennt sie Video-drawing. Bewusst setzt sie auf den skizzenhaften, unfertig erscheinenden Strich, der hier eine sitzende Frau, ein Selbstporträt, ergibt. Eine unten real in den Raum ragende Treppe setzt sich nach oben ungeachtet aller perspektivischer Konstruktionsfehler in die zweite Dimension fort und kreiert eine Nische, in der sich die filmisch animierte Figur zurückzieht und selbstvergessen kaum merklich die Finger der aufgestützten Hand zur Musik bewegt. Diese zarte Fragilität findet sich auch in der Arbeit von Loredana Sperini wieder, die mit gestickten „Zeichnungen“ bekannt geworden ist und diese vor einigen Jahren in Form von wandfüllenden Spiegel-Bildern erweitert hat. Sie fordern den Betrachterblick, der das Bild erst im Spiegel sucht und dieses dann ausserhalb findet. Aus den vermeintlichen Scherben tauchen vier Frauengesichter auf, und es wird deutlich, dass der Hintergrund, die Leere, massgeblich an der Zeichnung teilhat. Diesen Kipp-Effekt reizt auch Ante Timmermans aus, der eine fein durchlöcherte Radierung auf einen Hellraumprojektor gelegt hat. Was eben noch als Wiese mit weitem Horizont in Erscheinung getreten ist, wird nach Einschalten der Projektorlampe als nächtliche Stadtlandschaft an die Wand projiziert. Das Zeichen als Be-Zeichnung erhält viel Raum in Form von Bildern, die sich an der Comic-Kultur orientieren und Schrift integrieren, so etwa die assoziativ aufeinander bezogenen, verstörend abgründigen Bildergeschichten eines Marc Bauer oder die verspielt humorvollen Blätter von Anne-Lise Coste, auf denen sie mittels sich veränderndem Schriftbild ihren Gefühlen Ausdruck verleiht. So trifft ein verschnörkelt zweifelndes „I did all wrong“ auf ein kämpferisches, in krakeligen Kapitälchen gehaltenes „Please steal the Kunsthaus“.
Mehr Texte von Sylvia Mutti †

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Voici un Dessin Suisse (1990-2010)
29.01 - 25.04.2011

Aargauer Kunsthaus
5001 Aarau, Aargauerplatz
Tel: +41 62 835 23 30, Fax: +41 62 835 23 29
http://www.aargauerkunsthaus.ch
Öffnungszeiten: Di - So 10:00 - 17:00, Do 10:00 - 20:00


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