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Potenzial für neue Allianzen: Im Treibsand der Sozialversicherung

Nachdem wir uns am 1. Mai mit den Retrofeierformen der Wiener Sozialdemokratie beschäftigen konnten, zieht uns nun eine Kontroverse in ihren Bann, in der zwar auch der öde Klang tradierter Politformen dominiert, die sich jedoch gut für neue, temporäre Allianzen, namentlich zwischen Kulturschaffenden und anderen (alten, neuen oder nur scheinbar) Selbständigen eignen würde. Unser Faible für spröde Materien zieht uns hinab in das Sozialversicherungswesen und noch tiefer in den Strudel des derzeit eskalierenden Konflikts zwischen Ärztekammer und Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (SVA), der ab morgen zum sogenannten „vertragslosen Zustand” führen könnte. Die „causeries du lundi” können bekanntlich rechnen und tun es auch: In dieser Phase, in der PatientInnen vorerst beim Arzt bar bezahlen müssen, könnten mehr als 450.000 Menschen und ihre Angehörigen – darunter ein größerer Teil der Kunst- und Kulturschaffenden – eine Verdoppelung ihrer Arztkosten erleben, nämlich dann, wenn die Ärzte für die Zeit der Vertragslosigkeit ihre SVA-Honoraransätze – wie von der Ärztekammer empfohlen – um 20% erhöhen, und die SVA weiterhin nur 80% des alten Tarifs ersetzt. (1) Einmal im Treibsand gelandet, bemühen wir uns um Beruhigung, studieren die herumliegenden Abrechnungen, und könnten daher ergänzen, dass z.B. eine HNO-Erstordination mit einem Selbstbehalt von derzeit Euro 4,19 noch erträglich wäre (2), doch interessiert uns etwas Anderes mehr: Warum ist es eigentlich so ruhig in der Welt der Kultur? Eine mögliche Antwort könnte sein, dass sich in der „Versichertengemeinschaft” der SVA etwas abbildet, was noch zu keinem solidarischen Umgang miteinander gefunden hat, da tradierte Abgrenzungsmuster dies verhindern. Die Dominanz „alter” gesellschaftlicher Bilder in der politischen Analyse verhindert scheinbar, einen Konflikt auf ein Kulturumfeld zu beziehen, der den griffigen Stempel „Ärzte gegen Unternehmerversicherung” trägt. In der „Unternehmerversicherung” trifft der Schreiber dieser Zeilen nämlich nicht nur auf alle seine freiberuflichen KollegInnen, sondern auf mittlerweile über 270.000 KleingewerblerInnen ohne MitarbeiterInnen und auch auf alle KünstlerInnen, die erst nach dem 1. Jänner 2001 in das System der Künstlersozialversicherung und damit in die Zuständigkeit der SVA übernommen wurden. Eine potenziell bunte Allianz aus KritikerInnen, GaleristInnen, KünstlerInnen, ÄnderungschneiderInnen, Cafetiers und zahlreichen anderen Klein- und KleinstunternehmerInnen, viele davon mit Migrationshintergrund, böte sich hier als Solidargemeinschaft an. Doch ist es gerade im Bereich der Kunst die quasi-ständische Abgrenzung von KünstlerInnen und Nicht-KünstlerInnen, die bereits den ersten Schritt verhindert, wo zahlreiche weitere nötig wären, um gemeinsame Interessen dort zu sehen, wo Dünkel, lieb gewonnene Selbstmystifizierungen oder simpler Egoismus taktische Schulterschlüsse verhindern. Anders in Deutschland, wo die gemeinsame Mitgliedschaft von KünstlerInnen und PublizistInnen in derselben Künstlersozialkasse zumindest in Fragen der sozialen Absicherung zu einer stärkeren Mobilisierung beiträgt. Doch auch für die künstlerischen Interessensvertretungen könnte es einmal zum Problem werden, wenn ihre Rhetorik auch in Zukunft primär mit berufs- oder kunstspezifischen Eigenheiten argumentiert und nicht damit beginnt, Interessensähnlichkeiten, und damit Anschlussfähigkeit mit anderen Feldern, herauszuarbeiten. Zwar hat die IG AutorInnen recht wenn sie in einer Stellungnahme zum aktuellen Konflikt die Einbeziehung der AutorInnen und KünstlerInnen in die SVA als „Falle” bezeichnet, die auch für „Künstler über dem Mindesteinkommen” ein Problem wird, doch schwächt es den berechtigten Protest etwas, wenn nur für KünstlerInnen konstatiert wird, was für den freien Masseur oder den Schuster ums Eck gleichermaßen gilt. Auch nur eine Exit-Strategie für die eigene Berufsgruppe schlägt eine Aussendung des Regieverbandes A.D.A vor, der für Regisseure die Möglichkeit fordert, sich bis zu einer Umsatzsumme von Euro 100.000 bei der selbstbehaltsfreien Gebietskrankenkasse versichern zu können. Neben der Ruhe im engeren Kunstfeld (3), die vielleicht auch damit zu tun hat, dass alle KünstlerInnen, die bereits vor 2001 ins System der KünstlerInnensozialversicherung aufgenommen wurden, weiterhin bei den Gebietskrankenkassen versichert sind, ragen andere Protestplänzchen dort aus dem Boden, wo sich die Einzelkämpfer am virtuellen Lagerfeuer wärmen und daher im neuen sozialen Netzwerk die Zustände im alten sozialen Netz thematisieren können: Zwar gab es bei Redaktionsschluss erst knapp unter 200 bestätigte TeilnehmerInnen für eine über Facebook organisierte Protestkundgebung, doch umfasst die Gruppe neben dem Neo-Ladenbetreiber und der Webdesignerin auch den aktiven Blogger, experimentelle Musiker und einzelne FH-Technik-Absolventen. Folgerichtig fordert gerade diese beruflich-unspezifische Initiative das Naheliegende: Eine Sozialversicherung für alle, statt der derzeit 19 verschiedenen Krankenkassen. Auch wenn es sich nur um eine Kulissenschiebershow von KammerfunktionärInnen handeln sollte, die schnell durch einen sattsam bekannten „Verhandlungsmarathon” mit plötzlichem Erscheinen zweier weißer Ritter beendet sein könnte, lohnt sich für Kulturmenschen eine weitere Beobachtung der Bühne, und die Frage, ob die oft beklagte Gleichsetzung mit anderen Formen wirtschaftlicher Selbständigkeit nicht auch ein Potenzial zur gemeinsamen Wahrnehmung von Interessen bietet: Der Schneider im Ladenlokal gegenüber ist auch bei der SVA.
Mehr Texte von Martin Fritz

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