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Istanbul Biennale: Zweigstelle Tütün Deposu: Auf der Bühne der Desillusion

Rund um den Biennale-Ort Tütün Deposu wird die dem Begriff Megacity inhärente Verschachtelung von Zeitebenen evident. Nur Meter neben dem stockenden Strom einer überfüllten Verkehrsader entlang der Küste zur Galata Brücke, erscheint Istanbul brüchig, labyrinthisch. Eine Zeitschleuse in dörfliche Mikrostrukturen. Da wo die wirtschaftliche Transformation des Stadtraums in eine künftig pittoreske Event-Zone bevorsteht, bringt die Istanbul Biennale in einem neuerdings steril renovierten alten Tabaklager Reflexionen über die Widersprüche und das Scheitern zentraler Utopien im 20. Jahrhundert. Es wird die Frage nach der Machbarkeit von Geschichte aufgeworfen und nach adäquaten visuellen Übersetzungen. Natürlich wird weder die Kunst für irgendwelche Thesen in Beschlag genommen, noch der Kommunismus neu erfunden, was der Hauskritiker einer deutschen Wochenzeitung vor lauter Diskursangst befürchtet (1). Ganz im Gegenteil erprobt das Kuratorinnenteam WHW Möglichkeiten der Setzung von Differenz gegen die Übermacht des Realen. Logisch, an die Diagramm-Arbeiten KP Bremers zu erinnern, der durch Farbmuster, Grafiken und Landkarten in den 1970er Jahren kritische Leseweisen von Statistiken entwickelte. Alternativ zu den Abbildungen cooler Ökonomie schlug er Darstellungen der Seele und der Gefühle der ArbeiterInnen vor oder entwickelte Methoden, die Spekulationen mit Zink nachzuvollziehen. Weniger der Kunstmarkt war für den 1997 in Hamburg verstorbenen Künstler von Bedeutung, als die freie Zirkulation seiner vervielfältigten Blätter. Auf der anderen Seite der bis 1989 durch eisernen Vorhang und kalten Krieg getrennten Welt erarbeitete der usbekische, in Taschkent lebende, Vyacheslav Akhunov kritische Kommentare zu den Mythen des Sowjetsystems, indem er dessen offizielle Bildwelten in Collagen dekonstruierte. In der Gegenüberstellung solcher Positionen erweist sich die von Skepsis geprägte Haltung der Istanbul Biennale Kuratorinnen Ivet Curlin, Ana Devic, Natasa Ilic und Sabina Sabolovic gegenüber dem fix Formulierten. Abseits jeglicher Sentimentalität wird das Publikum in einem illusionslosen Welttheater knallhart gefordert. Eines der Stücke stammt vom Petersburger Kollektiv Chto Delat („Was tun“ nach der berühmten Novelle Nikolay Chernyshevskys, Russland 1862). In deren Perestroika Singspiel, einer Metainszenierung epischen Theaters als breit angelegter Text- und Videoinstallation, reflektiert die Gruppe im Stil der antiken Tragödie den Wandel der russischen bzw. sowjetischen Gesellschaft. Im Mittelpunkt einer der Kardinalzynismen der Geschichte: die Kontinuität von Klassengegensätzen vom feudalen über das sowjetische bis in das gegenwärtig oligarchisch-kapitalistisch strukturierte kommunistische Machtsystem. Das Ende der Ratlosigkeit ist noch nicht erreicht. Im Seitentrakt des Tütün Deposu geht es im Werk der Künstlerin Jinoos Taghizadeh um den gegenwärtigen Iran. In einer Hologramm-Serie verwendet sie Titelblätter von Tageszeitungen zur Zeit der islamischen Revolution gegen das blutige Schah Regime, die flimmernd mit Endzeit-Szenarien der westlichen Kunstgeschichte – wie den Alpträumen bei Hieronymus Bosch – abwechseln. Ein Punkt für eine Conclusio. Selbst wenn über der Istanbul Biennale ein Zitat aus der Dreigroschenoper steht, betonen die Kuratorinnen in ihrem theoretischen Statement die Unmöglichkeit, Methoden Bertold Brechts in die Kunst der Gegenwart zu übertragen. Auch wurden die gesellschaftlichen Problemstellungen seit den 1920 Jahren komplexer. Trotzdem geht es um nichts weniger als um die radikale Frage, wie Ethik und Ästhetik in ein adäquates Schwingungsverhältnis gebracht werden können.
Mehr Texte von Roland Schöny

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Istanbul Biennale: Zweigstelle Tütün Deposu
12.09 - 08.11.2009

Istanbul Biennale
Istanbul,
http://14b.iksv.org


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