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Kunst ⇆ Handwerk. Zwischen Tradition, Diskurs und Technologien: Kunst, mehr als nur frei

Die Beziehung von Kunst und Handwerk wurde gerade in den 1990er Jahren im Kontext des Crossover thematisiert. Neben vermeintlich kunstfernen Strategien aus Wissenschaft, Design, Mode und der (musikalischen) Popkultur wurden damals nämlich auch solche des Handwerks in den kritischen Fokus der Bildenden Kunst gerückt. Jorge Pardo war und ist bis heute einer der profiliertesten Vertreter dieser Ästhetik und so macht es Sinn, dass seine Installation „Stahl, Stoff, Holz, Meine Mutter“, 2020, so etwas wie die zentrale Schaltstelle dieser von Barbara Steiner und Lea Altner kuratierten Ausstellung ist. In dem im Erdgeschoss der Kestner Gesellschaft stehenden großangelegten Regalsystem, einem maßstabsgetreuen Nachbau aus seinem Studio in Los Angeles übrigens, finden sich nämlich so überaus unterschiedliche Exponate wie vom Künstler entworfene Lampen, Gemälde und Stühle. Vor dem Regal dann steht ein von Jorge Pardo bearbeitetes Drehfußballspiel und lädt zum Mitspielen ein. Die Kategorien was denn hier Kunst sei und was „nur“ Handwerk oder gar bloße Unterhaltung geraten da ins Schlingern, hehre Attitüden auf jeden Fall sucht man bei dieser vielschichtigen Installation vergebens.

Textilien stehen dann im Mittelpunkt der Arbeiten von Johannes Schweiger. Seine Werkgruppe “Industrial Performance: Basic Tissues 2“ 2012, zum Beispiel besteht aus weißem Stoff, dessen Musterung sich auf Entwürfe der Designerin Maria Likarz-Strauss (1893 - 1971), die Mitglied der Wiener Werkstätte war, bezieht. Johannes Schweigers klug gewählte Referenz macht deutlich, dass dem (bürgerliche) Diktum, das die Kunst zweckfrei zu sein habe, schon am Anfang des 20. Jahrhunderts produktiv widersprochen wurde. Und dass spätestens seit dann die zuvor gerade erst vereinbarten Widersprüchlichkeiten von egalitärer Massenproduktion und genialer Einzelschöpfung von vielen Künstlern nicht mehr akzeptiert wurden.

Die Trennung von zweckfreier Kunst und Handwerk, einst eingeführt um die Kunst als „autonome Avantgardekunst“ aus kirchlichen und höfischen Zwängen zu befreien, wird heute immer noch eingesetzt, um einerseits politische Kunst, als bloß agitatorisch, also als nicht zweckfrei zu diffamieren, und andererseits nicht-eurozentristische Kunst als lediglich handwerklich orientiert abzuqualifizieren. Gerade die Kritik an der letzten documenta übrigens zeigt wie dominant diese beiden dümmlichen Rhetoriken leider immer noch sind. Die Verbannung von vermeintlich nicht-modernistischer Kunst aus dem akzeptiert-hehren Kanon thematisiert dann auch Azra Aksamija in ihrer in der Kestner Gesellschaft zu sehenden Installation, und zwar unter anderem dadurch, dass sie konsequent vor allem traditionelle Handwerkstechniken für ihre Arbeiten nutzt, die sich zudem oftmals auch auf religiöse Riten, zum Beispiel aus ihrer Heimat Bosnien, beziehen. Der handgewebte Wollkelim „Monument in Waiting“, 2008/11, etwa besteht aus 99 Gebetsperlen aus zerstörten bosnischen Moscheen. Jede der hier traditionell verwebten Gebetsperlen erzählt also Geschichte(n) des Krieges und wird so zum Denkmal, Kunstwerk und Kleidungsstück zugleich.

Die Ausstellung überzeugt gerade durch die Klugheit ihrer Konzeption, ein wenig verwunderlich allerdings ist, dass die beiden Kuratorinnen (!) nur drei Künstlerinnen ausgewählt haben, dafür aber fünf männliche Artisten und eine Künstlergruppe.

Mehr Texte von Raimar Stange

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Kunst ⇆ Handwerk. Zwischen Tradition, Diskurs und Technologien
02.10.2020 - 10.01.2021

Kestner Gesellschaft
30159 Hannover, Goseriede 11
Tel: +49 511 70120 10
Email: kestner@kestnergesellschaft.de
https://kestnergesellschaft.de
Öffnungszeiten: Di-So 11-18, Do 10-20 h


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