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Germano Celant 1940-2020

Der Ort der Brandgefahr

Die Welt ist aufgebracht. In Europa erodieren die politischen Vereinbarungen der Nachkriegszeit. Im Mai 1968 ziehen Studierende durch die Straßen von Paris, in Asien tobt der Vietnamkrieg, in den USA fordern Rassenunruhen Gerechtigkeit ein, seit 1966 schon verändert die Kulturrevolution in China den Blick auf staatliche Gemeinschaften. Auch in der zeitgenössischen Kunst kommt es zu radikaler Umordnung. Germano Celant, italienischer Kurator und Intellektueller, versucht die rasende Entwicklung zu fassen. Er notiert, wie sich seine “Generation auf eine kreative Reise” begibt, wie sich der Wandel des Künstlerischen in einer beschleunigten Zeit vollzieht. Eine Wahrnehmungsverschiebung setze ein, vom Begriff des Kunstwerks als Produkt und Ware hin zum Kunstwerk als Idee und Konzept. “Es war eine Ablehnung des Todes des Objekts zugunsten des Lebens der Dinge. Die Künstler begannen mit Tieren, Wüsten, Wachs, Gummi, Eis, Schwefel, Glas und Schnee zu arbeiten – instabile, aber wichtige Elemente, die Gedanken und Konzepte materialisierten.“

Bereits 1967 prägt Celant anlässlich einer Ausstellung den Begriff der »Arte Povera«. Die Wortschöpfung wird zum Markenzeichen. Arte Povera, das ist kein trockener Fachterminus, eher ein sprechendes, nachvollziehbares Bild, auf jeden Fall ein gelungenes Label für eine Kunst, die sich gegen Werkfetisch und Kommerzialisierung wendet. Celant hat sein direktes Umfeld vor sich, die Künstler*innen seiner Generation in Italien. Was er findet, ist eine Kunst der einfachen Materialien: Erde, rostiger Stahl, Lehm, Kohle, Jute und allerlei Substanzen werden verwendet, die dem Verfall ausgesetzt sind, dazu noch Fotografien und Zeichnungen, die Prozesse festhalten. Vieles ist grau, schwarz oder schlammig. Nichts davon eignet sich für den Schmuck des Wohnzimmers. Aber noch wichtiger ist; – die Kunst geht nicht mehr nur von der Hand der Künstler*innen aus. Sie ist veränderlich und unvorhersehbar. Sie registriert Farb-, Temperatur- oder Umgebungsschwankungen oder reagiert auf Veränderungen, die sich geologischem oder biologischem Wandel verdanken. Celant listet seine Beobachtungen auf. Er erzählt vom Wachstum der Pflanzen bei Giuseppe Penone, von farblichen Mineralien bei Gilberto Zorio, den exotischen Webarbeiten von Alighiero Boetti. Er verweist auf die Feuerarbeiten bei Calzolari und die “starke Körperlichkeit eines Pferdes” bei Kounellis. Dazu kommen noch die geduckten Iglus von Mario und poetischen Staniolgehänge von Marisa Merz. Gemeinsam ist allen Genannten die Bedeutung des Materials. Materie ist kein stabiler Stoff, sondern mit der Vorstellung eines selbstbestimmten, naturnahen Handelns verbunden und damit mit Leben erfüllt. Die neue Bewegung könnte sich auch “Materia pura”oder “Energia vitale” taufen. Materialität ist eine “direkte Erfahrung, die in der leidenschaftslosen Oberflächlichkeit des immateriellen, digitalen Bereichs erwürgt” wird. Nicht nur wegen dieses Materialismus, der heute im Zusammenhang des Speculative Realism diskutiert wird, auch wegen seiner ökologischen Denkweise ist Celant für die Gegenwart relevant und Vorläufer. 1976 arbeitet er an der Biennale an einem Projekt, das sich »Ambiente / Arte« (Umwelt / Kunst) nennt. Daneben betont er das ikonoklastische Potential der Arte Povera, die Verweigerung, Bild oder Plastik, ja Bestätigung des Gegebenen zu werden. Er denkt an Giulio Paolini, der die Grenzen der Bildwahrnehmung ausreizt oder an Michelangelo Pistoletto mit seinen Erprobungen an der Grenze zwischen Kunst und Leben. All das sind anthropologische Größen, die bearbeitet werden, zeitlose Grundbedingungen des Kreativen.

Vielleicht sehen wir heute mehr Merkmale des Rückgriffs in diesen Werken, eine Geschichtlichkeit, zum Beispiel in antikischen Gipsfiguren oder in der Überlieferung alter Mythen. Doch Geschichte bedeutet für Celant immer Gegenwart, eine energetische Reserve. Kunst ist ein brummendes Speicherkraftwerk. Selbst Ausstellungen können frühere Energien bewahren. 2013 reinszeniert er Harald Szeemanns legendäre Ausstellung »When Attitudes Become Form« von 1969 in der Fondazione Prada in Venedig, unter Mithilfe von Thomas Demand und Rem Koolhaas. Die Vorstellung von der Kunst als unberechenbares Unikum ist ihm wichtig. “Die Verteilung der Werke im gesamten Raum war absichtlich chaotisch, damit die Ausstellung als eine Art Labor für Ideen und Energien dienen konnte. Der ungebremste Prozess der Überlagerung erzeugte eine begeisterte und dennoch dynamische Gesamtheit unzähliger Fragmente.” Deutlich ist die Absicht durchzuhören, die aspetischen Darstellungskonventionen des White Cube zu brechen. Celant brüskiert die Adepten der trockenen Sachtreue und akademischen Diskurse, die seiner Meinung nach der Kunst der Veränderungsjahre die lebensnotwendige Vitalität rauben. Wie übrigens auch Beuys und McLuhan denkt er in Wärmegraden. Die Kunst wird kalt in den Gefriertruhen der weißen Räume. Celant indes ist überzeugt, dass die Bewegungen seiner Zeit, die er in einem Palazzo in Venedig nach 44 Jahren nochmals zeigt, noch immer glühen, ja die Kunst ein Platz der “Brandgefahr” ist.

Germano Celant, der bis zuletzt in der Fondazione Prada als Artistic Director aktiv war, starb am 29. April an den Folgen von Covid-19 in Mailand.

Mehr Texte von Thomas D. Trummer

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