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Olga Chernysheva - Chandeliers in the Forest: Poesie des Tagtäglichen

Es ändert sich der Aggregatzustand beim Eintritt in diese Ausstellung. Sie ist eine Einladung zum ruhigen Betrachten, zum langsamen Einwirken lassen der Bilder. Dabei beeindruckt, aus welcher intimen Nähe Olga Chernysheva Szenarien des Moskauer Alltags aufzeichnet.

In den 1960er Jahren in der russischen Hauptstadt geboren, hat Chernysheva alle Transformationen der letzten Jahrzehnten selbst miterlebt. Vielleicht einer der Gründe, warum die von der russischen Filmavantgarde beeinflusste Künstlerin zur enormen Dynamik, zu dem allerorts spürbaren Tempo der Stadt und den Zusammenballungen von Menschen in ihrer Hetzjagd bei der Überwindung erschöpfender Distanzen eine derartige Ruhe bewahren kann.

Während man in Moskau gewöhnlich einem deutlich spürbaren Druck aus Bewegung und Geschwindigkeit ausgesetzt ist, gelingt es Chernysheva, inne zu halten und ihren Blick und Details zu konzentrieren, woraus dann Kohlezeichnungen von Menschentrauben und Menschenbändern auf den endlosen Rolltreppen entstehen. Zweieinhalb bis drei Minuten auf einer Rolltreppe auszuharren ist keine Seltenheit. Weil es kaum möglich ist, die anderen zu überholen, entsteht in den gewaltigen, palastähnlichen Anlagen aus der Zeit des Aufbruchs im vorigen Jahrhundert eine Atmosphäre des Ausgeliefertseins und der ungewollten Kontemplation. Im dämmrigen Licht steht man eingereiht, abwartend und blickt die Reihen der Fahrenden, Wartenden entlang. Jede einzelne Person, ein Schicksal für sich. Großartig fängt Chernysheva dies ein.

Oder die Künstlerin leistet sich den Luxus, das Stück des Verlaufs einer brüchigen Straße und einen Kanaldeckel zu filmen. In einer spannenden, 18 Kanal Video-Installation bringt Chernysheva kurze Protokolle des Moskauer Alltags; so wie dies Robert Frank einst mit der Fotokamera auf seinen Reisen durch die USA tat. Scheinbar unauffällige kleine Erzählungen, die ganze Welten aufspannen. Blicke in ein Wohnzimmer, Frauen, die zusammen stehen, feiern, singen. Trunkene in der nächtlichen Metro, deren Körper während der Fahrt hin- und her gerüttelt, aus dem Halbschlaf wieder hochgerissen werden.

Dazu Texte, poetisch ethnografische Annäheherungen der Künstlerin an diese Situationen, wobei sie versucht, das Typische, Lokalspezifische hervor zu streichen. Auf den Bildschirmen wechseln jeweils Bilder, Kurzfilme und dann eben die Texte; zuerst russisch, dann englisch, während im Raum eine Rachmaninow-Interpretation von Keith Jarrett erklingt.

Doch selbst, wenn man es – als journalistischer Infojunkie – gewöhnt ist, geschriebene Informationen in Hochgeschwindigkeit zu erfassen, ist es nicht möglich, den langen Beschreibungen in einem Durchgang zu folgen. Außerdem entsteht stellenweise der Eindruck, die Künstlerin erkläre Moskau; und zwar didaktisch. Das ist schade und stört jene besondere Atmosphäre, die Olga Chernysheva in den Bildern aufbaut. Die Produktionszeit des umfangreichen Werks aus 18 Videoarbeiten, wie Gemälde an der Wand installiert, betrug sieben Jahre. Umso unverständlicher ist der zu schnelle Bild-Text Wechsel; vielleicht aber bloß eine Eigentümlichkeit in der internationalen Version der Arbeit (mit inkludiertem Englisch).

In westlichen Kategorien gedacht, erinnert Chernyshevas künstlerische Arbeit an Peter Handkes Sammelband aus Essays, Gedichten und poetischen Fotoerzählungen "Als das Wünschen noch geholfen hat" aus dem Jahr 1974. Während Handke "Die Reise nach La Defense" in Paris als Begegnung mit einem Ort völliger Entfremdung beschreibt und dennoch eine poetische Sicht beibehält, überwindet Chernysheva Routine und ermüdende Monotonie auf den endlosen Wegstrecken in Moskau durch Innehalten und Empathie. Der Vergleich mag irgendwo hinken, doch irritiert da wie dort, ja, provoziert vielleicht sogar, mit welcher Nonchalance die größeren politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge ausgeblendet werden. Stellenweise wirkt Chernyshevas Zugang sentimental, fast so als würde sich die Künstlerin durch eine vergehende Welt bewegen, während Moskau derzeit an allen Ecken und Enden umgebaut und erneuert wird.

Andererseits: Ganz blendet Chernysheva die gesellschaftliche Realität nicht aus. Sie wird immer wieder angetippt. Evidente Widersprüche werden nicht geglättet; vielmehr ist dies vielleicht ein Versuch, sie in der Poesie erträglich schön zu machen.

Mehr Texte von Roland Schöny

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Olga Chernysheva - Chandeliers in the Forest
17.11.2017 - 21.01.2018

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